Anna Jermolaewa: Number Two

Anna Jermolaewa in ihrer Ausstellung Number Two, Schlossmuseum Linz, 2022/23
Foto: Michael Maritsch

Ausstellung im Schlossmuseum Linz 23.11.2022 bis 05.03.2023

Als Anna Jermolaewa 2015 eingeladen war, eine neue Arbeit für die Moskau Biennale How to gather, kuratiert von Dafne Ayas, Bart de Baere und Nicolaus Schafhausen, zu produzieren, heuerte sie 120 professionelle Demonstrierende in Moskau an – wie sie auch auf Pro-Putin-Demonstrationen zu finden sind –, für und zugleich gegen die Biennale und die zeitgenössische Kunst in der Ausstellung selbst zu demonstrieren. Die Arbeit Political Extras zeigt nun in der Ausstellung im Schlossmuseum Linz die Schilder mit den Parolen und ein Dokumentationsvideo, von der Registrierung bis zur Auszahlung der Demonstrierenden, also den gesamten Vorgang der Performance. Aus den englischen Untertiteln des Videos erschließen sich die Parolen auf den Schildern auch für Betrachter:innen, die nicht russisch sprechen. Die Teilnehmenden konnten sich diese (auf denen „I love Moskau Biennale“ ebenso wie „Fuck Biennale“ oder „Nieder mit der faulen westlichen Kultur“ zu lesen war) selbst aussuchen und kommentieren ihre Auswahl auch im Video. Die Künstlerin veranschaulicht damit zweierlei, einmal die Pervertierung des demokratischen Rechts auf Demonstration durch den Kauf von Demonstrierenden, die in der schwierigen wirtschaftlichen Lage auf solche Jobs angewiesen sind, und sie weist zugleich auf die prekäre Situation zeitgenössischer Kunst in Russland hin, indem sie deren gesellschaftliche Rolle und Glaubwürdigkeit in einem selbstreferentiellen Akt scheinbar delegitimiert.

Anna Jermolaewa, Political Extras, 2015, Ausstellungsansicht Schlossmuseum Linz 2022/23
Foto: Michael Maritsch

Auf dem Weg zu dieser Arbeit in einem der Seitenräume begegnet man in der großen retrospektiven Ausstellung Number Two von Anna Jermolaewa einer neuen Arbeit der Künstlerin, die wie Political Extras kulturelle Eigenheiten der russischen Gesellschaft exemplarisch darstellt. Ribs, 2022, zeigt Schallplatten aus Röntgenbildern in einem Leuchtkasten. Weil in der Sowjetunion der Besitz von Schallplatten mit Popmusik aus dem Westen verboten war, hatten findige Tontechniker:innen eine Alternative entwickelt: Sie kopierten diese auf in Spitälern weggeworfene Röntgenbilder, die auf Plattenspielern abgespielt werden konnten. Die Röntgenbilder dienten also als Tonträger und waren als solche nicht mehr verdächtig. Bis zum Aufkommen der Audiokassetten wurden diese, „Rippen“ oder „Knochen“ genannten Tonträger gehandelt. Jermolaewas Sammlung stellt heute ein wichtiges historisches Dokument dar, was man auch von Political Extras behaupten könnte, obwohl die gekauften Demonstrierenden derzeit leider noch nicht verschwunden sein dürften.

Anna Jermolaewa, Ribs, 2022, Ausstellungsansicht Schlossmuseum Linz 2022/23
Foto: Michael Maritsch

Ebenfalls 2022 entstanden ist die Arbeit Singing Revolution, ein 3-Kanal Video, das auf die Singenden Revolutionen von 1988 bis 1991 in den Baltischen Staaten referiert, wo die Unabhängigkeit von der Sowjetunion unter anderem durch tagelanges Singen großer Chöre in Stadien erkämpft wurde. Nun stellte die Künstlerin in jeder Hauptstadt von Litauen, Lettland und Estland Chöre zusammen, die für ihr Projekt Befreiungslieder sangen.

The Doubles von 2021 bildet räumlich das Zentrum der Ausstellung. Anna Jermolaewa interviewt in vier Videos Doppelgänger von Lenin, Stalin, Gorbatschow und Putin, die am Roten Platz in Moskau ihrer Arbeit nachgehen. Sie erzählen von ihrem oft bewegten, abenteuerlichen Leben, ihren Begegnungen als Darsteller historischer Figuren und ihren weltweiten Auftritten. Präsentiert werden die Videos in den jeweils zur Zeit der dargestellten Personen originalen Einrichtungsgegenständen. Es ist dieser Mix von Nostalgie und genauer Beobachtung, wie Kapitalismus und neoliberale Selbstverantwortung für Individuen funktionieren, sowie die Darstellung von Alltagsdetails in Russland, die an dieser Arbeit faszinieren. Anna Jermolaewa schaut genau und empathisch hin und zeigt so unter anderem die Freude und den Lebenswitz, die in jeder Situation – so auch in dieser – stecken kann. Nicht umsonst spricht sie in vielen Interviews davon, dass es ihr in ihrer Arbeit um die Untersuchung der Conditio Humana (1) geht, also um die wiederholte Frage, was die Menschen ausmacht.

Anna Jermolaewa, Doubles, 2021, Ausstellungsansicht Schlossmuseum Linz 2022/23
Foto: Michael Maritsch

Anna Jermolaewa, geboren 1970 in St. Petersburg in der damaligen UdSSR, floh aufgrund politischer Verfolgung 1989 nach Wien, wo sie seither lebt. 2024 vertritt sie Österreich auf der Biennale von Venedig und gestaltet den österreichischen Pavillon mit Kuratorin Gabriele Spindler, die auch die hier besprochene Ausstellung kuratiert hat. Viele ihrer Arbeiten haben mit ihrem Herkunftsland zu tun, mit der Geschichte, der Geschichtsschreibung, verlorenen Illusionen, aber vor allem mit zivilem Ungehorsam und gewaltfreiem Widerstand. Allerdings wäre es verfehlt, Jermolaewas künstlerische Produktion darauf zu beschränken. Diese reicht von alltäglichen Beobachtungen, die auch autobiographisch sein können, bis zu solchen auf Reisen. In Hostile Architecture, 2019/2022, etwa hat sie Selbstversuche mit „abweisender Architektur“ gemacht, die Menschen davon abhalten will, an Orten zu sitzen, wo das von den Eigentümer:innen nicht erwünscht ist. In Shopping with Family, 2013, wird die Künstlerin von ihrer Tochter beim Kauf einer Perücke vor der anstehenden Chemotherapie gefilmt.

Anna Jermolaewa, Both White (im Vordergrund), Number two (im Hintergrund), beide 2015/22, Ausstellungsansicht Schlossmuseum Linz 2022/23
Foto: Michael Maritsch

Die Ausstellung im Schlossmuseum in Linz betritt man über eine breite Treppe, die in das Untergeschoß, in den großen Ausstellungsraum führt. So sieht man fast die ganze Ausstellung auf einen Blick aus der Vogelperspektive. Die Retrospektive reicht von den frühen Videoarbeiten bis zu ganz neuen und umfasst Fotos, Videos, Installationen oder Zeichnungen. Die titelgebende Arbeit Number Two (after Solomon Asch) und das damit korrespondierende Werk Both White (after Valeria Mukhina), beide von 2015/22, aber nun neu ediert, haben zwei psychologische Testreihen als Ausgangspunkt. Erstere zeigt vier vertikale Neonröhren, drei nebeneinander, eine etwas abgesetzt. Zugrunde liegt dieser Arbeit, ein Experiment in den USA der 1950er Jahren des polnisch-amerikanischen Gestaltpsychologen Solomon Asch, der jeweils eine Versuchsperson mit mehreren Schauspieler:innen gemeinsam befragte, welche der drei Röhren in der der Länge der einzelnen Röhre entsprach. Die Schauspieler:innen waren angewiesen, fälschlich zu behaupten, dass dies die Nummer zwei wäre. Ein Großteil der Probant:innen passte sich der suggerierten mehrheitlichen Meinung an. Der zweite Versuch fand in den 1970er Jahren in der Sowjetunion statt. Die Versuchsanordnung bestand aus einer schwarzen und zwei weißen Holzpyramiden, von denen in der Ausstellung die weiße und die schwarze zu sehen sind. Die sowjetische Psychologin wollte mit dem Versuch beweisen, dass im Sozialismus aufgewachsene Personen, anders als bei Aschs Versuch, weniger anfällig für falsche Anpassung wären. Einer Gruppe von Versuchspersonen (Kindergartenkinder und Erwachsene) wurde zunächst zwei weiße Pyramiden gezeigt, diese Gruppe wurde aufgefordert auch weiterhin zu behaupten, dass es sich um zwei weiße Pyramiden handelte, auch nachdem eine mit einer schwarzen vertauscht wurde. Die neu hinzukommende Versuchsperson schloss sich der Mehrheit der anderen an. Both White thematisiert so nicht nur verlorene Illusionen nach einer gerechteren, freieren Gesellschaft im realen Sozialismus, sondern verweist aus heutiger Sicht auch auf die „militärische Spezialoperation gegen die Faschisten in Kiew“ und die damit einhergehenden Lügen über diesen Invasionskrieg. Das Kunstwerk selbst widerspricht mit der weißen und schwarzen Pyramide dem Titel Both White und weist so auf den dargestellten Widerspruch und die Unversöhnlichkeit zwischen Wahrheit und Manipulation hin.

Number Two, der Titel der Arbeit, der ganzen Ausstellung und des Katalogbuches, das ein gut dokumentiertes Werkverzeichnis der Künstlerin enthält, erscheint auf den ersten Blick einfach und rätselhaft und macht so neugierig, weil er ohne die Kenntnis des entsprechenden Werks nicht verständlich ist. Anna Jermolaewas Arbeiten wirken oft wie einfache Versuchsanordnungen. Ihre vordergründige Einfachheit, der implizite Witz, die Ironie, die Gesellschaftsanalyse und -kritik stoßen ein weites Feld von Reflexion an, das gerade heute vor dem Hintergrund des aktuellen Ukrainekriegs und dem damit einhergehenden Perspektivenwechsel, der im Westen in Bezug auf Russland und Wladimir Putins einsetzte, viele neue Lesarten offenbart. Lesarten, die den Arbeiten immer schon implizit waren, die sich nun auch den westlichen Betrachter:innen erschließen, das gilt für Both White ebenso wie für Political Extras.

  1. Silvia Eiblmayr, Überlebensversuche: ein Rückblick auf Anna Jermolaewas performative Charaktere, in: Anna Jermolaewa, Number Two, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Schlossmuseum Linz, hrsg. von Alfred Weidinger für die OÖ Landes-Kultur GmbH, Gabriele Spindler, Linz 2022 u.a. S. 151 und Anna Jermolaewa in conversation with Christiane Erharter, in: Anna Jermolaewa, Good Times Bad Times, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Zacheta – National Gallery Warsaw, Warschau 2015, S. 15.

 

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Sophie Thun

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