Auf den Schultern von Riesinnen

Christiana Perschon, Wenn ich mich zeichne, existiere ich dreifach, 2023, Videostill
© Christiana Perschon/Bildrecht, Wien

Künstlerhaus Wien, 09.03. bis 09.06.2024

Gleichzeitig mit der Ausstellung Auf den Schultern von Riesinnen, nur von kürzerer Dauer (22.03. bis 14.04.2024), wurde im selben Geschoss des Künstlerhauses die Schau Maria Lassnig – Selbst als Kamera mit vier einfühlsamen filmischen Porträts von Freundinnen, darunter auch Künstlerinnen, gezeigt, die erst nach Lassnigs Tod fertig ediert wurden.(1) In den in Vitrinen ausgestellten Notizen schreibt Lassnig in den 1980er Jahren:

Ich bin die Alibifrau in Österreich, nicht nur um an mir zu zeigen, dass man etwas für Frauen tut, sondern auch um mit mir sagen zu können, Frauen, die talentiert genug sind, kommen von alleine durch und brauchen keine Frauenbewegung.

Was soll die Künstlerin tun, um Größe zu erlangen?

Ich fürchte, sie muss auf ein Privatleben verzichten (Heirat, Kinder) und muss ihre Identität finden, d.h. etwas Authentisches machen, was nur möglich ist durch Meditation und […] herausfinden, was ihr am wichtigsten ist und was sie am besten kann, wo sie ihre Hebel ansetzen muss, um Neuland zu heben, und dort wird sie dann sicher sein und, wenn sie dann noch eine notwendige Zähigkeit besitzt, wird sie früher oder später durchdringen (wenn sie nicht früher stirbt).(2)

Lassnig kam nach einem zwölfjährigen Aufenthalt in New York 1980 nach Wien zurück, um als erste Malerin einen Lehrstuhl für Malerei an einer deutschsprachigen Kunsthochschule, an der Angewandten, zu übernehmen. Ihre Schau Mit dem Kopf durch die Wand 1989 in der Secession war die erste Einzelausstellung einer Künstlerin im Hauptraum der Secession, 92 Jahre nach der Gründung der Künstlervereinigung. Es ist heute kaum vorstellbar, wie lange das gedauert hatte. In dieser Zeit war ihre Benachteiligung als Frau im Kunstbetrieb und vor allem am Kunstmarkt auch in unseren Gesprächen, die wir im Zuge der Vorbereitung zu dieser Ausstellung führten, immer wieder Thema. Leider habe ich sie nie gefragt, ob es für sie weibliche Vorbilder gab. Was die oben erwähnten Filme aber zeigen, ist, dass sie Frauen sehr zugewandt war und dass sie eine große Rolle in ihrem Leben spielten. Ihren Erfolg hat sie jedoch, so scheint es mir, immer in Konkurrenz mit Männern definiert, was freilich in ihrer Generation naheliegend war.

Anna Meyer, Futurefeminism (Wir lebten in 100 Jahren), 2007–2023, Ausstellungsansicht Auf den Schultern von Riesinnen, Künstlerhaus Wien 2024
© M. Nagl, 2024 und die Künstlerin

Ganz anders ist das für jene Künstlerinnen der heute 30- bis 60-Jährigen. Für sie gibt es nicht nur weibliche Vorbilder und Role Models, es ist ihnen auch ein Anliegen eine weibliche Kunstgeschichte neu zu schreiben und Künstlerinnen aus der Vergangenheit wieder zu entdecken. Eine Auswahl von Arbeiten dieser Generation und ihrer Auseinandersetzung mit weiblichen Protagonistinnen zeigt nun die von Nina Schedlmayer kuratierte Ausstellung im Wiener Künstlerhaus (kuratorische Assistenz: Anna Mustapic). Nina Schedlmayer ist Kulturpublizistin und Kuratorin und konzentriert sich in ihrer Arbeit auf eine feministische Kunstgeschichte, seit 2018 betreibt sie den feministischen Blog https://artemisia.blog/.

Unter dem einprägsamen Titel Auf den Schultern von Riesinnen versammelt sie 14 künstlerische Positionen von Frauen(3), die sich in eine weibliche Geschichte der Kunstproduktion einschreiben und sich mit dem Schaffen von Künstlerinnen anderer Generationen von Artemisia Gentileschi bis Anna-Lülja Praun, Valie Export und Florentina Pakosta befassen.(4) Die Ausstellung ist nicht nur informativ, sondern auch vergnüglich, weil man beim Ansehen immer wieder neue Künstlerinnenpositionen und -geschichten kennen lernen kann.

Wie spielerisch, witzig und in die Zukunft schauend die Geschichte der Kunst neu geschrieben werden kann, demonstriert Anna Meyers Futurefeminism (Wir lebten in 100 Jahren). Hier hängen zahlreiche bemalte Plexiglasplatten vor-, hinter- und übereinander im Raum, in denen verschiedene Kunstwerke der Vergangenheit in Dreier- und Vierergruppen zu überraschenden Analogien geordnet werden. So steht zum Beispiel das bekannte Foto von Louise Bourgeois mit riesigem Dildo unter dem Arm neben einem Porträt von Lavinia Fontana, einer italienischen Malerin des Manierismus, neben einer haarigen Figur von Marlene Haring und einem nackten Selbstporträt von Meyer, in dem sie ihr Geschlecht mit einem riesigen Pinsel kitzelt, bemalt oder penetriert. Unter dem Überbegriff „Platz da, macht die Wolke frei“ sieht man auf einer anderen Platte das Gemälde von Maria Lassnig, in dem sie nackt über Manhattan spaziert, mit dem Titel „Malereifürstinenhimmel [sic] Maria Lassnig 2014“ neben aus dem Himmel stürzenden Figuren „Starkünstlerfürsten Himmelssturz“ darunter das berühmte Plakat der Guerilla Girls 1985 „Do women have to be naked to get into the Met. Museum?“ Wiederum darunter die Parole „Platz da, macht den Weg frei, für Künstlerinnen 90% femal artists next 100 years“ mit einem steil aufsteigenden Kurvendiagramm von 2014 bis 2114 vor einem Selbstporträt der Künstlerin, die sich so in die von ihr propagierte, unter feministischer Perspektive entwickelte Genealogie einschreibt.

Huda Takriti, On Another Note, 2024, Ausstellungsansicht Auf den Schultern von Riesinnen, Künstlerhaus Wien 2024
© M. Nagl, 2024 und Huda Takriti/Bildrecht Wien

Huda Takritis Zweikanalvideo beruht dagegen auf einem Gespräch mit ihrer Mutter Souheit Takriti in Damaskus im Jahr 2023 und beschäftigt sich mit ihrer Großmutter, der Künstlerin, Modeschöpferin und Designerin Hikmat Al-Habbal, 1926 in Beirut geboren, und ihrem Großvater Adel Takriti, 1914 in Haifa geboren, und deren Lebensgeschichte zwischen Kuweit, dem Libanon und Syrien. Das Stigma und die Probleme des staatenlosen Flüchtlings (Großvater) sowie die Karriere der Großmutter, die als junge Frau als Lehrerin und Designerin für eine kuweitische Prinzessin in Kuweit lebte, wo die Mutter auch geboren wurde, sind dabei Thema. Anhand von Fotoalben, Fotos, Gemälden und diversen Textilarbeiten eröffnet Takriti ein vielschichtiges und facettenreiches Panorama einer Familie im Nahen Osten seit den 1950er Jahren. Ein besonderer Moment ist, wenn die Mutter eine textile Arbeit zeigt, von der die Großmutter den Wunsch äußerte, dass die Mutter daran weiterarbeitete und diese in dem Gespräch den Wunsch wiederum weiter gibt an ihre Tochter, die Künstlerin. Das Gespräch zwischen Mutter und Tochter ist aus dem Off. Das Video zeigt neben den Fotos, Fotoalben und Textilarbeiten immer wieder bunte abstrahierte Landschaftsdarstellungen. So gibt es mehrere Bildebenen, die zum Teil semitransparent die Vielschichtigkeit verstärken, auch die englische Übersetzung wird wie auf einem halbdurchsichtigen Blatt darübergelegt. Die Fotografien erscheinen mal negativ mal positiv, Hände bewegen sie, halten die Fotoalben, in denen häufig die Männer traditionell und die Frauen westlich gekleidet sind. Hier sind die Riesinnen also die starken Frauen in der Familie.

Viktoria Tremmel, Come again a bit, Freddy, 18. Nov. 1819, 2022, Ausstellungsansicht Auf den Schultern von Riesinnen, Künstlerhaus Wien 2024
© M. Nagl, 2024 und Viktoria Tremmel/Bildrecht Wien

Anne Lister (1791–1840), Schriftstellerin, Reisende, Landbesitzerin und Liebhaberin von Frauen hat zeitlebens Tagebücher über ihre Reisen, ihre Geschäfte und zahlreichen Liebschaften mit Frauen geführt, letztere in einer Geheimschrift, die nach ihrem Tod versteckt in ihrem Haus gefunden und später entziffert wurden. Lister berichtet u.a. über ihre ausgedehnten Reisen, eine Erstbesteigung in den Pyrenäen, ihre Kaukasusreise mit Besuch eines Harems, in dem die Frauen „wie Tiere“ gehalten wurden, „eine Erniedrigung der Hälfte der Menschheit“, über die Dampfkraft, die sie für eine zukunftsträchtige Erneuerung hält, über Bergbau, darüber, dass sie ihr Griechisch auffrischen, Französisch, Algebra und Flöte lernen will. Sie schreibt aber auch erotische Tagebücher über ihre zahlreichen Liebschaften mit Frauen: „Ich weiß, wie man Frauen beglückt.“ Und sie schreibt ihre umfassenden Aufzeichnungen, die sehr Privates mit Geografie, Ökologie und Ökonomie vereinigen, um in „Zukunft zu erheitern und erbauen“(5). Anne Lister ist nun die Protagonistin von Viktoria Tremmels Installation Come again a bit, Freddy, 18. Nov. 1819. Die Installation umfasst eine Wandarbeit mit Kartons, in denen Auszüge der Tagebücher, Zeichnungen und Aquarelle Tremmels zu finden sind. Auszüge aus den Tagebüchern gibt es auch als Audio, dem man auf einem alten Stuhl sitzend lauschen kann; in einer Vitrine finden sich wie in einer Kunst- und Wunderkammer en miniature u.a. Muscheln, Fotos, Eier, Landkarten und mehrere Kegel mit Schamhaaren, inspiriert von denen, die Lister von ihren Liebhaberinnen erbat.

Anne Listers Tagebücher wurden in den 1980er Jahren, also ca. 150 Jahre nach ihrem Entstehen von der feministischen Forschung, wiederentdeckt und finden hier eine vielschichtige und überzeugende Darstellung in unterschiedlichen künstlerischen Medien.

Christiana Perschon, Wenn ich mich zeichne, existiere ich dreifach, 2023 (vorne) und Bildwerden, 2022 (hinten), Ausstellungsansicht Auf den Schultern von Riesinnen, Künstlerhaus Wien 2024
© M. Nagl, 2024 und Christiana Perschon/Bildrecht, Wien

Einen ganz anderen Zugang sucht Christiana Perschon in den beiden Videoporträts über Florentina Pakosta und Isolde Joham, wobei das Setting jeweils den Charakter des Porträts bestimmt. Florentina Pakosta spricht vor einem Spiegel in ihrem Atelier, die Kamera fokussiert auf das Spiegelbild der Künstlerin, in dem man im Vorder- und Hintergrund das Atelier zu sehen bekommt. Pakosta erzählt von ihrer Rolle als einziger Frau in der Klasse von Josef Dobrowsky 1956 bis 1960 an der Akademie der Bildenden Künste Wien und von den Schwierigkeiten danach Fuß zu fassen. Wie sie im Künstlerhaus nicht aufgenommen wurde, weil Frauen als Mitglieder nicht erlaubt waren. In der Secession war zugleich mehrere Jahre ein „Aufnahmestopp“. Irgendwann schaffte sie es dann doch in die Secession und war sogar einige Jahre die einzige Frau im Vorstand, die sich die „obszönen Witze“ der Kollegen anhören konnte. Sie erzählt davon, dass sie sich zwischen dem Beruf der Künstlerin und dem einer Ehefrau und Hausfrau entscheiden musste und wie sie begann täglich Selbstporträts zu zeichnen, für die sie Subjekt und Objekt zugleich war, die Spiegelbild und zugleich Zeichnung waren und „ein Beweis ihrer Existenz“(6). Diese vielfachen Selbstporträts trugen so zur künstlerischen Identitätsfindung wesentlich bei.

Das Porträt von Isolde Joham wiederum wirkt im Gegensatz dazu nahezu abstrakt. Sie spricht kaum, sondern posiert, von der Filmemacherin hinter der Kamera ermuntert, auf der Treppenleiter vor verschiedenen ihrer Gemälde in einem wunderbaren Anzug mit Totenkopf auf dem Rücken.

Isa Rosenberger, Manda, 2023 und Carola Dertnig, Der Nachlass der Architektin Anna-Lülja Praun, 2007, Ausstellungsansicht Auf den Schultern von Riesinnen, Künstlerhaus Wien 2024
© M. Nagl, 2024 und Carola Dertnig/Bildrecht Wien

Betritt man die Ausstellung im mittleren größten Ausstellungsraum, prägen vier Installationen den Raum. Carola Dertnig zeigt einen Paravent, an dem Aquarelle mit Arbeiten von Anna-Lülja Praun zu sehen sind. In einer Diaschau über die Architektin und Designerin erzählt Dertnig in dem dazugehörigen Audio, wie sie einander kennen gelernt haben, über ihre Beziehung, über das Leben und Schaffen von Praun und schließlich über das Ausräumen der Wohnung nach ihrem Tod. Isa Rosenbergers Arbeit Manda präsentiert in einer räumlichen Gestaltung, die als Träger für eine Projektion, einen Monitor und als Sitzgelegenheit dient, ein Video über Manda von Kreibig, eine Tanzperformance von Celia Millán im Archiv und Depot des Bauhauses, einem wichtigen Ort für von Kreibig, die als Tänzerin und Choreografin dort lehrte. Regina Bittner und Barbara Steiner sprechen auf dem Monitor über den historischen Kontext.

Stefanie Seibold, Joy in Repetition II, 2019 und Anna Reisenbichler, Cyanotypien, 2017 und Annas Box, 2017/18, Ausstellungsansicht Auf den Schultern von Riesinnen, Künstlerhaus Wien 2024
© M. Nagl, 2024 und die Künstlerinnen

Stefanie Seibolds Skulpturenduo Joy in Repetition II geht von der Designerin Lilly Reich aus, die mit Mies van der Rohe lebte und arbeitete und mit ihm gemeinsam das Café Samt & Seide für die Ausstellung Mode der Dame 1927 in Berlin entwarf. Zwei mit Stäben angedeutete Formen, eine gelb und eine rosa, beziehen sich auf die mit Vorhängen abgehängten Kojen der historischen Ausstellung. Diese werden mit assoziativen Collagen ergänzt.

Anna Reisenbichler beschäftigt sich mit der britischen Botanikerin und Fotografin Anna Atkins, die durch ihre Cyanotypien im 19. Jahrhundert, insbesondere durch das Buch Photographs of British Algae, 1843, das erste Buch überhaupt, dessen wissenschaftliche Illustrationen ausschließlich mittels einer fotografischen Technik hergestellt wurden,(7) erst in letzter Zeit wirklich bekannt wurde. Zeichnungen, die den Cyanotypien nachempfunden sind, hängen an den Wänden. In einer Vitrine zeigt Reisenbichler persönliche Gegenstände, die ihren Alltag mit dem von Atkins verbinden.

Nina Schedlmayer präsentiert in dieser Ausstellung im Künstlerhaus ausschließlich bereits existierende Arbeiten von Künstlerinnen, die in Wien und Umgebung leben und arbeiten. Sie zeigt damit Künstlerinnen, die sich mit den „Riesinnen“, auf deren Schultern sie heute stehen und auf die sie aufbauen können, in ihren künstlerischen Arbeiten auf vielfältigste Weise auseinandersetzen. Sie schreiben eine weibliche Kunstgeschichte, holen (lange vergessene) Protagonistinnen vor den Vorhang, messen sich mit ihnen und lassen sie hochleben.

(1)  Editiert von Hans Werner Poschauko und Mara Mattuschka.

(2)   Transkription der Verfasserin, Interpunktion der aktuellen Rechtschreibung angepasst.

(3)  Es sind dies Katharina Aigner, Judith Augustinovič & Valerie Habsburg, Anahita Asadifar, Bettina Beranek, Carola Dertnig, Karin Fisslthaler, Anna Meyer, Christiana Perschon, Anna Reisenbichler, Isa Rosenberger, Constanze Ruhm, Stefanie Seibold, Huda Takriti, Viktoria Tremmel.

(4)   Die Ausstellung ist in drei Themengruppen gegliedert:  1. Imaginäre Reisen durch das Archiv, 2. Sich ins Verhältnis setzen und 3. Den Kanon umschreiben, sich in Verhältnis setzen.

(5)   Zitate aus ihren Tagebüchern.

(6)   Zitate aus dem Video.

(7)   Cyanotypien sind eine den Fotogrammen sehr ähnliche Technik mit Direktabdrücken von Gegenständen, in diesem Fall Pflanzen.

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Broncia Koller-Pinell

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Fraumatisch – Anna Meyer im Bauhaus Dessau