Ich beharre ja auf Schönheit. Auch als politisches Konzept.

Ines Doujak im Gespräch mit Hildegund Amanshauser

Ines Doujak, John Barker, A Mask is Always Active, 2014, Video, Filmstill
Courtesy: Ines Doujak

Hildegund Amanshauser: Deine Arbeit basiert häufig auf umfangreichen Recherchen, geschichtlichen Nachforschungen und dem Versuch neue bisher nicht gemachte Verknüpfungen herzustellen. Sie eröffnen eine frische Perspektive auf historische und gesellschaftliche Zusammenhänge. Zentrale Themen sind Patriachat/Feminismus, Kolonialismus/Rassismus, Natur und Ökologie, Klasse und Ungleichheit. Gesellschaftliche/ökonomische Strukturen hinter bestimmten Phänomenen werden aufgedeckt und kritisiert. Oft sind deine Arbeiten verstörend, sie weisen eine ganz eigene Ästhetik auf. Karnevaleskes und Maskerade sind dabei wichtige Kennzeichen. Transformation und Metamorphosen oder das Verschwimmen von (Geschlechter)Grenzen sind Teil des methodischen Repertoires.

Begonnen hast du unter anderem mit Fotografien, Fotografien von Menschen, die du zu bestimmten Posen angeregt hast. Deine Dargestellten entsprechen selten gängigen Schönheitsidealen. Du sagst selbst, dass dich der perfekte Körper nicht interessiert. Die Fotos entwickeln so eine ganz eigene, queere Ästhetik, eine Ästhetik, wo sich Menschen mit Dingen und Menschen miteinander und der Natur verbinden. Einen Schritt weiter gehen dann deine Collagen, die gefundenes Material und eigene Fotos kombinieren, wo menschliche Körper mit der Natur verschmelzen. 

Deine künstlerischen Medien entstehen im Laufe der inhaltlichen Auseinandersetzung und mit dem Ziel eindrückliche Bilder und Kontexte zu schaffen, in denen die Betrachter*innen oftmals Teil der künstlerischen Arbeit werden (z.B. bei Performances, Workshops etc.), und diese nicht nur kognitiv, sondern auch emotional und erlebnishaft erfahren. Performance, Skulptur, Installation, Podcast, Video, Modekollektionen, Stoffe - alles wird zu deinem künstlerischen Medium. Und du arbeitest gerne in Teams, z.B. mit John Barker, mit dem dich eine jahrelange Partnerschaft verbindet. 

Das Interview kann alleine aufgrund des Umfangs deines Oeuvres nur einen rudimentären Einblick in deine Arbeit geben und ein paar rote Fäden durch die Vielfalt und Komplexität ziehen. Ich schlage vor, dass wir uns deinem Oeuvre chronologisch nähern, über Werkkomplexe, die du in Ausstellungen präsentiert hast. 

Ines Doujak, o. T., Ausstellungsansicht Dinge, die wir nicht verstehen, 2000
Courtesy: Sammlung Generali Foundation – Dauerleihgabe am Museum der Moderne Salzburg, Foto: Werner Kaligofsky

Anlass sind die beiden Ausstellungen, die in Wien zu sehen sind (Kunsthaus Wien, Landschaftsmalerei bis 3. 10. 2021) und zu sehen sein werden, Kunsthalle Wien (Geistervölker 1.10. 2021 bis 16.1. 2022).

Bereits in den Anfängen gibt es einen starken feministischen/queeren Schwerpunkt. Das trifft bereits auf deine erste größere Ausstellungsbeteiligung „Dinge, die wir nicht verstehen“ in der Generali-Foundation im Jahr 2000 zu. Dort war unter anderem deine Diplomarbeit zu sehen, die aus inszenierten Fotografien bestand, die in großen Rahmen am Boden standen. Die zweite Arbeit war eine Fotorecherche zu Fragen der Sichtbarmachung der Sexualität alter Frauen, lesbischer S/M und um kultureller Erzählungen über Massenvergewaltigungen im jugoslawischen Krieg. Für die Ausstellung „Die Regierung“, Secession 2005 (beide erwähnten Ausstellungen: Kurator*in Roger Buergel/Ruth Noack) hast du die Arbeit „Follow the Leader“ entwickelt.

Ines Doujak, Follow the Leader, Ausstellungsansicht Die Regierung. Paradiesische Handlungsräume, Secession 2005
Foto: Matthias Herrmann

Wie bist du auf die jeweiligen Themen gekommen und wie hast du die unterschiedlichen Projekte entwickelt?

Ines Doujak: Ich habe mich damals in feministischen Umfeld bewegt, Feminismus ist ja nicht nur eine philosophische Denkrichtung, sondern hat immer eine ganz starke Anbindung an eine Praxis. Damit wird so etwas wie eine Überprüfung möglich, das fand ich immer spannend. Viele verschiedene Akteurinnen generieren gemeinsam Wissen aus ganz unterschiedlichen Voraussetzungen heraus. Dies war der Kontext, in dem meine Arbeiten für die erste größere Ausstellungsbeteiligung in der Generali Foundation, die du erwähnt hast, entstanden sind. Mir schien es, dass sich die Formen aus Notwendigkeiten heraus entwickelt haben. Ich habe während des Studiums aus kompletter Unkenntnis mit dem Fotografieren begonnen. Ich konnte ja nichts und dachte mir, fotografieren ist irgendwie einfach, (lacht) und billig. Und ich hatte von Anfang an das Bedürfnis, das Bild in den Raum zu erweitern, ein Thema, das mich bis heute begleitet.

HA: In der Arbeit „Follow the Leader“ verbindest Du ja koloniale und feministische Fragestellungen?

ID: Ja, das war meine erste Arbeit, die sich wirklich grundlegend mit Kolonialismus beschäftigt hat. Ausgangspunkt war der Text „Benito Cereno“ von Herman Melville. Ein ganz früher emanzipatorischer Text, bei dem es um den Aufstand schwarzer Sklaven auf einem Schiff unter der Führung Kapitäns Benito Cerenos geht. Diesen habe ich verfilmt oder bebildert. Alle anderen Elemente sind im Arbeiten entstanden, wie überhaupt sehr viel im Prozess des Arbeitens entsteht, weil letztendlich jedes Werk immer spezielle Erfordernisse und Wünsche hat. Ganz besonders wenn man versucht Thesen, Ideen und Philosophien ein anderes Leben zu geben. 

Ich hatte diese Flotte von zehn Kriegsschiffen von kolonialen Mächten, die Rückseite war ein Schaffell, da dieses oft am Bug eines Schiffes als Gallionsfigur angebracht war. Die Gallionsfigur spielt eine große Rolle in der Geschichte von Melville. Der getötete aufgespießte Kapitän als Gallionsfigur, zu dem die sich in Geiselhaft befindende Mannschaft von den aufständischen „Negersklaven“ jeden Morgen geführt wurde („if you don’t bring us back to Senegal you will follow your leader“). Auf der Vorderseite der Schiffe ist die Geschichte von „Benito Cereno“ visuell nachgestellt; auf den Straußeneiern finden sich Erzählungen, in denen es um Befreiungskämpfe von Frauen, unter anderem von den Mujeres Libres aus dem Spanischen Bürgerkrieg oder um Soldatinnen-Armee in der kurdischen PKK ging. 

HA: Warum Straußeneier?

ID: Straußeneier sind koloniale Trophäen und ich wollte diesen Schiffen noch mehr Gepäck geben und Inhalte beifügen. Die darauf abgebildeten emanzipatorischen Kämpfe waren fast immer auch antiimperialistische und antikoloniale und in diesen die oft führende Rolle der Frauen extrem unbelichtet. 

HA: Das war 2004, als du die Arbeit gemacht hast…

ID: Auch weil Österreich im kollektiven Bewusstsein nicht als koloniale Macht vorhanden ist, gab’s kaum jemanden der zu diesem Thema gearbeitet hat, schon gar nicht im Kunstfeld.

H.A. Machen wir einen Sprung zur einer zweiten Werkgruppe für die documenta 2007 (Kurator*in Roger Buergel/Ruth Noack): Deine Arbeit heißt „Siegesgärten“ und es geht um Biopiraterie. Kann man sagen, das ist ein weiterer Themenkreis, der dich in gewisser Weise seither immer wieder begleitet?

ID: Ja und nein, sie ist eine direkte Folge der „Follow the Leader“ Arbeit, weil ich auf das Thema bei der Recherche gestoßen bin. Ich habe angefangen, über Piratinnen nachzudenken und bin dann eben über den Begriff der Biopiraterie gestolpert. Ich wusste damals noch gar nicht, was das eigentlich bedeutet und ich war so schockiert, dass ich deshalb diese Arbeit entwickelt habe. Dabei geht es um Aneignung von Pflanzen, Tieren, menschlichen Genen etc. durch multinationale Konzerne und um die Enteignung von Menschen, die eben keine Finanzkraft haben und die noch nicht einmal wissen, dass sie enteignet werden, weil in den USA dieser Aneignungsprozess nicht publik gemacht werden muss. 

Ines Doujak, Siegesgärten, Ausstellungsansicht, documenta 12, 2007
Foto: Ines Doujak

Ich habe damals das erste Mal überlegt, wie man mit einer umfangreichen Forschung in der künstlerischen Arbeit umgeht. Wie kann man einem Publikum eine große Textmenge in einer Ausstellung näherbringen? Noch dazu in einer so großen Ausstellung, in der man nicht weiß, wie lange die Leute Zeit haben, um sie zu besichtigen. Deswegen bin ich auf die, wie ich glaube, ziemlich gute Idee mit diesen Samentüten gekommen. Die Arbeit ist ein krabbelnder Garten mit 70 Samensäcken. Auf der Vorderseite sind zum Teil Fotos aus botanischen Gärten abgebildet, die ich auf der ganzen Welt gemacht habe, und das erste Mal auch Collagen, wo sehr oft menschliche Körper mit Pflanzen und Tieren verschmelzen. Es war mein erster Versuch die Grenzen des Menschlichen, wenn man es so nennen will, zu sprengen. Auf der Rückseite waren Darstellungen von diesen Fällen, aber auch Beschreibungen von Leuten oder Organisationen, die sich gegen diese Praktik wehren. Die Collagen, die auf der documenta auch als Originale ausgestellt waren, sind außerdem in der Form von käuflich erwerbbaren Plastiktüten in den öffentlichen Raum getragen worden. Das Buch mit allen Samensäckchen ist aber erst im Nachhinein entstanden.

Ines Doujak, Loomshuttles, Warpaths, 2010-2018, Ausstellungsansicht, Sao Paulo Biennal 2014
Foto: Ines Doujak

HA: Ein nächster Werkkomplex ist das Projekt „Webschiffe Kriegspfade“, das, wenn ich das richtig sehe, dein größtes Projekt bisher ist.

ID: Ja, es ist ein großes vom Austrian Science Fund (FWF) gefördertes Projekt, dessen erster Teil „An Eccentric Archive“ von 2010 bis 2018 gedauert hat, der zweite Teil „Not Dressed for Conquering“ ist immer noch nicht abgeschlossen. 

HA: Kann man sagen, dass dieses Projekt letztendlich auf deine erste mehr als einjährige Reise nach Südamerika in sehr jungen Jahren zurückgeht? Du hast damals vor ca. 40 Jahren die ersten Textilien in den Anden gekauft, die dann Teil deines exzentrischen Archivs wurden. Wie würdest du dieses Riesenprojekt in Bezug auf Fragestellungen und künstlerische Herangehensweise beschreiben?

ID: Ausgangspunkt war natürlich meine erste Reise und mein Interesse und meine Zuneigung für Lateinamerika, insbesondere für den andinen Raum. Ich habe damals Textilien mitgenommen, aber als Sammlung würde ich das nicht bezeichnen. Wenn du in diesen Ländern über einen längeren Zeitraum reist, entkommst du den Textilien nicht. Speziell in den Anden gibt es nach wie vor eine textile Kultur mit einer textilen Tradition und Geschichtsschreibung, die alles Gesellschaftliche, Spirituelle, Politische bestimmt. Der Ausgangspunkt für die künstlerische Forschung war tatsächlich die Überlegung, wie ein Archiv organisiert sein muss, damit daraus anderes Wissen generiert werden kann, zugänglicher und dynamischer als „klassische“ Archive, damit es sich verändern kann – deswegen „exzentrisches Archiv“. Die Stoffe waren ein guter Ausgangspunkt, weil durch sie viele Bereiche angesprochen sind: Technologie, das koloniale Unverhältnis und Vermächtnis, Kunst versus Handwerk usw. Das Projekt war vom FWF für zwei Jahre gefördert, der erste Abschnitt hat dann zehn Jahre gedauert und der zweite Teil ist immer noch nicht abgeschlossen. 

HA: Wie ist das Archiv aufgebaut? Wie groß ist es?

ID: Für die 48 Archivstücke habe ich als Erstes Karteikarten entworfen, auf denen Interpretationen des Webstücks oder das Textil abgebildet sind und diese Darstellung wurde dann von vier Texten durchkreuzt. Im ersten Text ging es um die Kolonialgeschichte von Textilien und Farben, im zweiten um Arbeitskämpfe beginnend im 13. Jahrhundert bis heute. Textilarbeiterinnen haben sehr oft soziale Umbrüche und Arbeitskämpfe angeführt, weil die Arbeitsbedingungen immer schon und immer noch mit die schlimmsten überhaupt waren und sind. Der dritte Text war meine eher dilettantische Beschreibung des Arbeitsgegenstandes. Der vierte Text schließlich ist eine Korrespondenz von Menschen, denen ich das Textil geschickt habe, mit der Bitte, dass sie mit diesem in Kommunikation treten, da in den Anden Textilien als lebende Entität gesehen werden. Meine Frage an die Korrespondent*innen war, spricht ein Textil, wenn es außerhalb seiner Gemeinschaft adressiert oder befragt wird? Es sind diese vier Texte mit den Bildern, die dann als Buch (Ines Doujak, John Barker Loomshuttles, Warpaths. An Eccentric Archive 2010 – 2018, Leipzig 2018) eine Form gefunden haben. Zu jedem Archivstück gibt es auch ein Plakat. Diese Plakate sind es, die dann ausgestellt werden.

Ines Doujak, Not Dressed For Conquering, Ausstellungsansicht Württembergischer Kunstverein 2016/2017
Foto: Hans D. Christ

Relativ bald ist mir aber klar geworden, dass ich mit dem Medium, über das ich spreche also dem Textilen, auch arbeiten muss. Dadurch hat sich ein zweites Kapitel entwickelt, unter dem Label „Not Dressed for Conquering“ („Die falschen Klamotten zum Erobern“), für das ich anfangs Textilmuster zu bestimmten Themen entworfen habe. Im Laufe der Zeit haben sich diese in Bewegung und Ton übersetzt und es sind Filme, Lieder, Performances, Texthefte, Mode, Schmuck, usw. entstanden.
Themen wie Brände in Textilfabriken, globaler Handel oder Karneval wurden in eigens entworfenen Boutiquen präsentiert. Die Besucher*innen der Ausstellungen konnten dort die Kleidungsstücke und Taschen anprobieren und theoretisch auch kaufen, um dadurch die verhandelten Inhalte quasi zu „begreifen“; ein körperliches, verführerisches Lernen.

Ines Doujak,Velvet, Plakat aus der Serie: Loomshuttles, Warpaths, 2010-2018
Courtesy: Ines Doujak

HA: Nehmen wir ein Beispiel aus dem exzentrischen Archiv, das Plakat „Velvet“ (Samt). Es korrespondiert mit dem Archivstück „Waq’ollo / 3 Facial Masks“, das sind drei Balaklavas, maschinengestrickte und handbestickte Sturmhauben aus Schafwolle und Acryl, die du in El Alto, La Paz in Lima bei Straßenverkäufer*innen zwischen 2005 und 2010 gekauft hast. Das Plakat zeigt ein Foto von einer Demonstration in Moskau aus der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ und es trägt die Jahreszahl 1954. Kannst du anhand dieses Beispiels erläutern, wie diese unterschiedlichen Fäden zusammenfinden?

ID: Das ist ein sehr interessantes Beispiel, weil man einen Hooligan auf einer faschistischen Demonstration in Moskau sieht. Man erkennt, dass er ein Hooligan ist, an der Marke der Bomberjacke, die er anhat und sein Gesicht ist mit einer peruanischen oder bolivianischen Tanzmaske bedeckt. Diese Masken werden jedes Jahr für den Fasching industriell hergestellt und dann mit der Hand endgefertigt. Die Maske als solches ist schon eine Mimikry des (spanischen) Kolonialherren, das sieht man an dem aufgestickten Schnurrbart. Drei dieser Masken sind der von dir beschreiben Archivgegenstand. Das war wirklich ein ganz interessantes Beispiel von „migration of form“. Die Jahreszahl 1954 auf dem Plakat bezog sich auf den 2. Juni 1954 und den Beginn des „human rights strike“ an der Omi Kenshi Spinning Company in Japan, einer Seiden- und Faden-Fabrik. Bei dem Streik ging es um den Protest von Textilarbeiterinnen gegen ihre Überwachung und unbezahlte Überstunden. Nach 106 Tagen Streik konnten sie eine Gewerkschaft gründen, bekamen bezahlten Urlaub und bezahlte Überstunden. Dieser Streik war eine Initialzündung für weitere Arbeitskämpfe in Japan. David Riff schrieb den korrespondierenden Text zu dem dazugehörenden Archivstück „Waq’ollo / 3 Facial Masks“, in dem er eine Verbindung zu dem Konzert von Pussy Riots in der Christerlöserkirche 2012 knüpft, bei dem sie auch diese Balaklavas angehabt hatten. 

Die Serie von 48 Plakaten (und eben 48 Archivgegenständen), sind immer vollständig oder in zwei Gruppen von je 24 ausgestellt. Wenn man sie als Ganzes anschaut, begreift man auch etwas ohne zu lesen.

HA: Kommen wir zur Liverpool Biennale, die noch bis 27. Juni 2021 läuft, du hast gemeinsam mit John Barker eine Serie von fünf Podcasts gemacht, die sich mit der Geschichte von Pandemien befasst, „A series of five podcasts on Disease and Pandemics in a Distorted World“, 2021 (https://liverpoolbiennial2021.com/programme/ines-doujak-john-barker-transmission-a-series-of-five-podcasts-on-disease-and-pandemics-in-a-distorted-world/). Wie bist du zum Thema Krankheit gekommen? Welche Rolle spielen dabei die Atlanten mit Darstellungen von Hautkrankheiten, die du schon längere Zeit für Collagen als Ausgangsmaterial verwendest? 

ID: Ich arbeite schon einige Zeit zu Pandemien, Covid ist da nur ein weiterer Baustein. Wenn du dich mit Globalität und globalem Handel beschäftigst, stößt du unweigerlich auf Krankheiten. Typhus, Cholera, Schweinepest, HIV, usw. sind Pandemien, die globalen Handelsrouten gefolgt sind. Man weiß es sehr gut von Afrika, dass der HIV Virus sich entlang dieser Routen von LKWfahrern verbreitet hat. Der Suez Kanal wurde gebaut, nicht nur um Transporte billiger bewerkstelligen zu können. Dessen Aneignung durch die Briten hatte auch das Ziel, die Verbreitung von Cholera zu kontrollieren. Da gab es immer schon Zusammenhänge. Mein Interesse ist aber mehrgesichtig. Für die Collagen „Geistervölker“ verwende ich das Material aus medizinischen Lehrbüchern für Ärzte hauptsächlich vom Ende des 19. Jahrhunderts. Die habe ich schon parallel oder früher als die Arbeit an den Pandemien angefangen. Ich hatte zufällig ein Blatt eines solchen Atlas am Flohmarkt gefunden. Das faszinierte mich und hat mich dazu gebracht, diese Körper als karnevaleske Körper zu interpretieren. Also ein Körper, der sich öffnet oder ein Körper, der über die eigenen Grenzen hinauswächst. Mich hat die Vitalität dieser Körper mehr interessiert als die Krankheitssymptome. Das hängt vielleicht auch mit einer Arbeit zusammen, die ich zum dem Thema Karneval für Sao Paulo Biennale realisiert habe, in der es wirklich um den abjekten ungehorsamen Körper geht. Also dieser gefräßige alles verschlingende, über sich hinauswachsende Körper der sich mit anderen verbindet. 

HA: Welche Arbeit war das?

ID: „Masterless voices“, das sind Collagen, eine Kollektion, ein Shop, Skulpturen, Objekte, ein Video... 

Ich werde manchmal gefragt, welche Krankheiten dargestellt sind und es ist mir wirklich egal. Auf einer gewissen Ebene ist das natürlich auch Form für mich und jeder durch Krankheiten, Alter, Verletzungen oder Ähnliches gezeichnete Körper, ist um ein Vielfaches interessanter als ein unbeschriebener. 

Ines Doujak,Ghostpopulation, seit 2016
Courtesy: Ines Doujak

Als ich von Manuela Moscoso nach Liverpool eingeladen wurde, hatte ich bereits angefangen, eine der Collagen zur Skulptur umzuarbeiten, in einen vier Meter hohen von Körpern bevölkerten Magen. Der Titel der Liverpool Biennale ist „The Stomage and the Port“, also „Der Magen und der Hafen“. Liverpool war eines der Epizentren des globalen Handels und der globalen Ausbeutung und einer der Hauptumschlagsplätze für Sklaven. Das war schon ein merkwürdiger Zufall, dass ich an dem Thema bereits zu arbeiten begonnen hatte. Ich wollte dann auf Einladung der Biennale eine Straßenparade machen, in der ich über Pandemien und Seuchen mit Musik und Straßentheater erzähle, und der Magen wäre von der Stadtmitte zum Hafen getragen worden. Da ich die Vorahnung hatte, dass uns Covid noch lange Zeit begleiten würde, bin ich auf die Idee gekommen, das Material in einer Podcastserie zu verarbeiten. Gemeinsam mit John Barker haben wir fünf Podcasts geschrieben, jeder zu einem bestimmten Teilbereich wie Impfungen oder Schlachthäuser und industrielle Fleischproduktion. Themen die sich aus dem ganzen gesammelten Material als zentral herausgeschält haben.

HA: Der Podcast ist also die Form, die bedingt durch die Pandemie zustande gekommen ist, weil die Parade ja nicht machbar war.

ID: Eine Arbeit über Pandemien die von einer solchen gestoppt wird; etwas das plötzlich ‚wirklich’ wurde. Mit Covid gab es eine Flut an Informationen. Man weiß nicht, wer was mit welchem Interesse sagt und was Propaganda ist. Das weiß man ja eigentlich nie, aber jetzt scheint alles irgendwie verstärkt. Wir haben versucht, diese jetzige Pandemie mit anderen Pandemien, die viel weniger Aufmerksamkeit bekommen haben, weil wir in Europa davon wenig betroffen waren, zu verknüpfen und bestimmte Strukturen oder Verbindungen aufzuzeigen. Ich glaube, das ist ein Faden, der sich durch die Arbeit der letzten Jahre zieht: Verknüpfungen und Beziehungen herstellen, Geschichte neu zu erzählen.

HA: Nun zu den Ausstellungen in Wien: Im Kunsthaus (Kuratorin Verena Kaspar) verwendest du in einer Arbeit das Erbe eines Freundes mit Samen und getrockneten Pflanzen, Pilzen, zermahlenen Blütenblätter, Beeren, Holz, Asche, Lehm, Steinen und Sand. In einer zweiten Arbeit geht es um Landraub. Knüpfst du damit an die documenta 12 Arbeit an, in der es um Raub an der Natur geht? 

ID: Die Ausstellung im Kunsthaus gliedert sich in zwei Teile. Das eine ist eine Außenarbeit im Innenhof, in der es um Landraub geht. Auch wieder geschichtlich, Landraub ist keine neue Praxis, sondern eine Praxis, die sich immer wieder auf dieselbe Argumentation stützt. Sie wird derzeit extrem virulent, weil wir mit der Pandemie gesehen haben, dass gewisse Phänomene, die die Pandemien mit verursacht haben, nicht verschwinden, sondern geradezu explodieren. Zum Beispiel die Abholzung von Urwäldern, die industrielle Tierhaltung, das Soja das angebaut werden muss usw. In dem Fall besteht die Arbeit hauptsächlich aus Originaltexten von Landräubern. Sie sind zwar in den letzten Jahren mit ihren Äußerungen vorsichtiger geworden, was die Recherchearbeit etwas erschwert hat, aber in den Texten sagen sie, warum sie als Elite, das Recht haben, sich das Land anzueignen oder präziser gesagt zu stehlen. Es ist erschütternd, dass das Argument immer schon das gleiche war und ist. Ob das jemand im 13. Jahrhundert sagt oder in den 2020er Jahren. Es geht dabei immer um Effizienz, Kompetenz und diese Dinge. Das ist ein Teil der Arbeit. 

Die Ausstellung heißt „Landschaftsmalerei“ und der andere Teil der Ausstellung hat als Ausgangspunkt die Substanzen, die ich von meinem Gärtnerfreund geerbt habe. Seit ich diese Samen und Substanzen bekommen habe, hat sich die Sammlung dezimiert, die Beschriftung ging größtenteils verloren. Es handelt sich bei diesem Erbe um ein komplettes Privatuniversum mit Kürzeln und lateinischen Namen und Listen. Es ist immer noch eine extrem umfangreiche Sammlung, die dieser Gärtner 1984 begonnen hat. Haltlos in den Materialien mit teilweise winzigen zermahlenen Blütenblättern, aber auch Flüssigkeiten, in denen er Sachen eingelegt hat und Konvolute von Kernen und Erden und was auch immer du dir vorstellen kannst. Ich habe mir über Benennungen und Kategorisierungen, beginnend mit Carl von Linée, Gedanken gemacht. Einen Teil dieser Substanzen habe ich jetzt neu benannt. Hauptsächlich nach Frauen, revolutionären Frauen oder Menschen, die sich als Frauen identifizieren. Diese Exponate haben jetzt ein Label und eine Beschreibung auf Latein wie in der Botanik. Die Samen heißen jetzt Maria, Fikile, Lakshmi, Hêlîn, Chelsea usw. Zum Namen gibt es meistens ein Originalzitat in der Klammer wie „bin noch bereit 1000 Tode zu sterben“ oder „ein Glas Milch“ und es gibt eine kurze Biografie von diesen Frauen, die in der Ausstellung aufliegt oder übers Netz abrufbar ist.

HA: Sind die Biografien erfunden oder wahr?

ID: Die sind wahr. Heldinnen sind ja ein eigenes Genre, bei dem allerdings meistens dieselben Namen auftauchen. Ich habe versucht, Frauen zu finden, die nicht bekannt sind und es sind jetzt 116 Biografien geworden, aber man könnte das bis ins Unendliche weiterführen. Am Anfang kam es ist ein bisserl altmodisch vor, aber es ist so inspirierend, wenn man nachlesen kann, was Menschen bereit waren, für ihre Ideale oder die Gemeinschaft zu opfern.

Ines Doujak, Landraub, „Counterpoints II“, Installtionsansicht Grafenegg, Niederösterreich 2018
Foto: Ines Doujak

HA: Und der Teil über Landraub? 

ID: Die Zitate der Landräuber sind auf Postern auf dem Hintergrund Apfelsorten. Diese Poster sind auf Holz aufkaschiert und hängen an Bäumen, wodurch die Bäume zu Apfelbäumen werden, damit die Arbeit ansprechend und harmlos daherkommt, dann liest man aber diese Hammerzitate.

HA: Kannst du schon etwas über die Ausstellung in der Kunsthalle (Kuratorinnen WHW) sagen?

ID: In der Kunsthalle versuche ich das erste Mal, Verknüpfungen zwischen Globalität/globalem Handel und Pandemien zu machen. Zum Teil wird man dort Arbeiten sehen, die schon für Liverpool geplant waren und zum Teil werden neue Werke hergestellt. Als Entree werden „schwarzes Geld“ und „weißes Geld“, also das, was krimineller Handel ist und das, was sich regulärer Handel nennt und deren Überschneidungen thematisiert. Eine Arbeit heißt „Economies of Desperation“ („Mit der Verzweiflung wirtschaften“) dabei geht es um Sklaverei, Landraub, Waffenhandel, Kriege, Drogen usw. In der anderen geht es um globalen Handel, speziell am Beispiel der neuen chinesischen Seidenstraße, weil sich gezeigt hat, dass sich durch neue Handelsrouten globale Kräfteverhältnisse massiv ändern. Das leitet dann zu den Pandemien über.

HA: Also eine Weiterentwicklung der Liverpool-Arbeiten?

ID: Genau.

HA: Jüngere Kunstschaffende könnten dich fragen: Wie schaffst du das, dass du so riesige Projekte konzipierst, finanzierst und umsetzt, dass du auf der ganzen Welt auszustellst? Wie geht sich das ökonomisch aus, ohne einen fixen Teaching Job und ohne größere Galerie?

Ines Doujak, Landschaftsmalerei, Installationsansicht, Kunsthaus Wien, 2021
Foto: Kunsthaus, © eSeL

ID: Das ist wirklich schwer zu beantworten. Die Kosten sind hoch. Vielleicht eine Mischung aus Arroganz und Hingabe. Den Magen habe ich angefangen mit Bauchweh. Dann dachte ich aber, warum sollten nur reiche Künstler große Skulpturen machen, ich mach das jetzt auch! Ich kann es wirklich nicht erklären, es ist ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren und ich hoffe natürlich, dass es auch mit der Qualität und der Eigenständigkeit der Arbeit zusammenhängt. Es sind freilich auch virulente Themen, die ich bearbeite und ich bearbeite sie in einer Weise, die nicht klassisch in das Genre der politischen Kunst passt. Ich mache eigentlich auch nichts anderes als Kunst. Der Zeit und Energieaufwand sind enorm.

HA: Abschließend: deine Arbeit ist sehr politisch, sie ist zugleich aber auch sehr schön. Schönheit, die auf deinen ganz eigenen ästhetischen Prinzipien beruht, spielt für dich eine wichtige Rolle. „There is no politics without beauty“, sagt Nora Izcue in „Loomshuttles Warpaths“, S. 234. Richtig?

ID: Ich beharre ja auf Schönheit. Auch als politisches Konzept. Wenn man nun schon etwas macht, dann so schön wie möglich. Wir sind ja alle von so viel Hässlichkeit umgeben. Dann hat man diese Themen und die müssen auch ertragbar sein. Von einem Selbst, aber auch von einem Publikum.

Ines Doujak: 1959 in Kärnten geboren, zeitweise bei der Großmutter, Kärntner Slowenin, aufgewachsen. Tischlerlehre, Studium an der Universität für Angewandte Kunst (damals Hochschule) bei Ernst Caramelle, Renée Green und Ferdinand Schmatz. Seit 2000 Ausstellungstätigkeit.

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Künstlerinnen der „Textilen Moderne“

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Das scheidende Museum?