Being faced with „the black page”

Das Editionsprojekt BLACK PAGES 01-100

BLACK PAGES 01–100, Ausstellungsansicht Franz Josefs Kai 3, Wien I. Raum für zeitgenössische Kunst, 2022
Foto: Gregor Titze

Dass man die Cellophanfolie vor dem Ankauf nicht öffnen darf, ist eine der konzeptuellen Vorgaben des Fanzines BLACK PAGES, das Christoph Meier, Ute Müller und Nick Oberthaler von 2009 bis 2022 in 100 Ausgaben mit einer jeweiligen Auflage von 300 herausgegeben haben. Man erwirbt also zum Preis von zwei Euro ein verpacktes Editionsprodukt, das sein Außen gegen sein Innen in Stellung bringt: Vier Seiten Umschlag auf dunklem Karton und 16 Seiten Kern in Schwarzweiß, der an 100 österreichische und internationale Künstler*innen im genannten Zeitraum vergeben wurde, die am einheitlich gestalteten Cover mit ihren Vornamen aufscheinen und ihre Beiträge frei gestalten konnten.

BLACK PAGES 01–100, Ausstellungsansicht Franz Josefs Kai 3, Wien I. Raum für zeitgenössische Kunst, 2022
Foto: Gregor Titze

„Being faced with ‚the black page’“(1): Programmatisch ist der Titel von Frank Zappa übernommen, der ausgehend vom Albtraum seiner Musikerkollegen angesichts einer unvorbereiteten Konfrontation mit einer „schwarzen“ Seite voller Noten seine „Black Pages“ schuf, wie Drummer und erster Interpret Terry Bozzio überliefert. Künstlerische Praxis gepaart mit Eigensinn sind ein gutes Movens für eine einmalige künstlerische Setzung, die das Schwarze gegen das Weiße ausspielt, es bisweilen umkehrt und im Schwarzweiß-Druck variiert. In der Bildenden Kunst hat das schwarze Tableau ein ebenso weites Hinterland, zu verfolgen vom Mnemosyne-Atlas zu den Sprachspielen von Marcel Broodthaers auf schwarzem Untergrund, der allerdings auch weiß sein konnte. In Clement Rodzielskis Heft 99 könnte man an Broodthaers „Tafel A“ denken, einer Collage von Bildern auf schwarzem Grund, die jeweils mit einem „a“ bezeichnet sind, welches nun als grauer einzelner Buchstabe in vielen Wiederholungen auf weißem Grund den Kern des Heftes so bestimmt, als wolle er etwas bezeichnen, was nicht da ist.

#22 LAWRENCE - Lawrence Weiner, 2011
Courtesy: BLACK PAGES

Eine hypothetische Vorstellung der Gesamtauflage liefe auf ein Ganzes von 30000 Heften hinaus, das als Objekt in seiner Materialität zwar spekulativ bleibt, jedoch in der Foucaultschen „Umklammerung“(2) von Monument und Dokument weitergedacht werden kann. Foucault hat das Monument gerade in der nicht-monumentalen Welt, in Büchern und Texten dingfest gemacht und auch das Archiv als solches verstanden. Auch die BLACK PAGES sind ein Archiv, das aus der doppelten Künstlerschaft profitiert, und wie alle Archive überlieferte Vorstellungen zerstört und in seiner apparativen Struktur Dinge, aber keine Subjekte enthält. Diese treten in anderen Formaten der BLACK PAGES in Erscheinung wie etwa in der Release Party jedes Heftes, die Teil des Gesamtkonzeptes ist. Raumgeworden war das Projekt in der Ausstellung im Raum für zeitgenössische Kunst Franz Josefs Kai 3, die Kuratorin Fiona Liewehr von März bis Juli 2022 mit Unterstützung von Franziska und Christian Hausmaninger ausrichtete. Inmitten der umfangreichen Präsentation aller Hefte, die zusätzlich von einem diskursiven Rahmenprogramm ergänzt wurde(3), war auch die Notenschrift von Zappas „The Black Page No.1“ zu sehen.

#68 BARBARA - Barbara Kapusta, 2016
Courtesy: BLACK PAGES

Das Außen der 100 Hefte ist einer einheitlichen konzeptuellen Struktur unterworfen, die im Format A5 und im Design von Cover und Umschlag liegt. Abweichungen waren bisweilen erlaubt, wie etwa Toni Schmale das Heft 53 von hinten nach vorne angelegt hat. Auch das Umschlagpapier variiert in Farbton und Charakter. Die Vornamen der 100 Künstler*innen erscheinen in verschiedenen Farben und sind so angeordnet, dass sechs Buchstaben nebeneinanderstehen, alle weiteren aber in die nächste Zeile rücken.

Künstler*innen mit selteneren Vornamen werden vielleicht erkannt, bei anderen muss man auf der Rückseite des Umschlags nachschlagen, wo der vollständige Name zu lesen ist. Wie stehen die Namen zueinander? In ihrem Projekt „relations-ship“ entwarf Ree Morton Fahnen für ein Segelschiff, auf denen jeweils die Vornamen von Freund*innen (und Künstler*innen) mit drei bis vier Buchstaben zu lesen waren wie „Bob“, „Bill“ oder „Fred“. Vom Nachnamen getrennte Vornamen verlieren Volumen und Identität, gehen aber andererseits eine neue Gruppierung ein, in der der Einzelne weniger als Individuum denn als Teil eines gemeinsamen Netzwerks ausgewiesen ist. Der Vorname wird dann zum Ordnungsprinzip, so wie Künstler*innen der Neoavantgarden Alphabet, Schrift und Buchstaben neben Codierung und Nummerierung als Arbeitsmaterialien einsetzten, wie etwa Alighiero e Boetti von den „cose primarie“ sprach, mit denen er konzeptuelles künstlerisches Denken gegen Subjektkonstruktionen setzte.

#53 TONI - Toni Schmale, 2014 Vorderseite
Courtesy: BLACK PAGES

In Bezug auf den Namen gehen die BLACK PAGES noch einen Schritt weiter, indem sie das Wort gegen die Schrift und den Buchstaben ausspielen. Zwar sind die Namen lesbar, aber nicht in Bezug auf ein Reales codierbar. In der zweizeiligen Ausführung verlieren sie an Semantik und werden zu einzelnen Buchstaben, die zusätzlich an Körper verlieren, indem sie als Konturen, als Silhouette angelegt sind. Erst nach der Lektüre des Heftes wird auf der hinteren Umschlagseite der Hefte der vollständige Name wieder hergestellt. Zu diesem Konzept tritt bisweilen, auch wenn ansonsten das Außen und Innen strikt getrennt sind, die eine oder andere Arbeit in einen spannenden Dialog, wie etwa Barbara Kapustas linguistisch und poetisch motiviertes Spiel mit dem „U“ in Heft 68: „U is a piece, a part, a code…“.

#53 TONI - Toni Schmale, 2014 Rückseite
Courtesy: BLACK PAGES

Mit den legendären Vorgängern der Neoavantgarden, dem „Great Bear Pamphlets“ der Something Else Press oder den Mönchengladbacher Kassetteneditionen verbinden die BLACK PAGES Format und die strenge konzeptuelle „Rahmung“. Die theoretisch ausgerichteten „Great Bear Pamphlets“ gingen ebenfalls von einem methodisch und interdisziplinär verstandenen Musikbegriff aus. Sie erschienen in 20 Nummern von 1965 bis 1967 in bunten Umschlägen und waren ebenso ein Künstler*innenprojekt, das etwa George Brechts „Chance-Imagery“, einen essentiellen Text zum Zufall, enthielt. Die Mönchengladbacher Kassetteneditionen kamen auf 35 Nummern und waren von Anfang an institutionskritisch angelegt. Johannes Cladders, der als Direktor des Städtischen Museums Mönchengladbach dieses beispiellose Editionsprojekt eines Museums ins Leben rief, sah sich dabei als Koproduzent der Künstler*innen, wenn er sagte: „Ich folgte einfach dem, was Künstler machten.“(4) Eine der Ausgaben war von Lawrence Weiner, hatte die Auflage von 300 und kostete 6 DM. Auch die Nummer 22 der BLACK PAGES ist von Lawrence Weiner gestaltet, auf die allerdings mit weitaus längerem Atem noch weitere 88 Ausgaben folgen sollten.

  1. Zitiert nach einem Interview mit dem Drummer Terry Bozzio: https://en.wikipedia.org/wiki/The_Black_Page

  2. Zitiert nach Knut Ebeling, Monumente. Raumgewordene Vergangenheiten bei Benjamin und Foucault, in: Weimarer Beiträge 50/4, 2004, S. 593: https://d-nb.info/120280909X/34

  3. Siehe www.franzjosefskai3.com

  4. Zitiert nach Susanne Rennert, Exhibition in a Box, „Creation Permanente”, in: Susanne Rennert & Susanne Titz (Hg.), Die Kassettenkataloge des Städtischen Museums Mönchengladbach 1967-1978, Köln 2020, S.14.

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