Documenta 15 für Alle

Raimar Stange und Hildegund Amanshauser unterhalten sich per e-mail über die documenta

Raimar Stange, Foto: Peter Niemann

Hildegund Amanshauser: Du schlägst vor gegen Ende der documenta noch mal darüber zu sprechen. Ist noch nicht alles gesagt?

Raimar Stange: Nein, es ist nicht alles gesagt. Im Gegenteil: Es wurde bisher, zumindest in den deutschen Medien, fast nur über den vermeintlichen Antisemitismus-Skandal geredet, nicht aber über die nun nicht mehr eurozentristische, wenn man/frau so will, Ästhetik auf der documenta. Darüber würde ich in der Tat gerne mit dir sprechen.

HA: Mir erscheint, dass gerade weil die documenta mit ihrem doch sehr radikalen Ansatz so viele Prinzipien unseres westlichen Kunstbetriebs in Frage – ja geradezu auf den Kopf – stellt, sich einige der alten westlichen Gatekeeper im Feuilleton dann lieber auf die Antisemitismus-Diskussion gestürzt haben, wie sie in hunderten Artikeln deutschlandweit zum Ausdruck kam. Es schien einfacher, die Frage des Antisemitismus zu diskutieren als die wesentlich komplexeren Themen, die die documenta aufwirft. Schon die Art, wie die Teilnehmenden ausgewählt wurden, ist bemerkenswert: So hatte ruangrupa schon früh 14 Initiativen, die sich bereits vorher zu der Praxis des Lumbung bekannten, als Lumbung Members eingeladen, an der Entwicklung der documenta mitzuarbeiten. 53 Lumbung Künstler:innen (individueller wie kollektiver Natur) wurden in der Folge von ruangrupa und dem künstlerischen Team zur Teilnahme eingeladen, diese wiederum haben wie in einem Schneeballsystem weitere eingeladen. Insgesamt sind es nun ca. 1.500 Kunstschaffende und Kollektive. Mir scheint, die interessanten Fragen sind: Was passiert, wenn Kurator:innen die Auswahl der Teilnehmenden nicht mehr alleine bestimmen, sondern, wie ruangrupa das macht, Individuen und Kollektive einlädt, die wiederum andere Kunstschaffende einladen? Was geschieht, wenn die üblichen Qualitätskriterien obsolet werden? Diese Fragen würde ich gerne noch genauer diskutieren.

RST: Ich denke, du hast die Situation sehr präzise beschrieben: die „üblichen Qualitätskriterien werden obsolet“. An deren Stelle treten, übrigens schon seit längerem, aber vom westlichen Kunstbetrieb bisher größtenteils souverän übersehen, Kategorien wie Horizontalität (flache Hierarchien, kein Zentrum, Wuchern...), Mobilität (eine statische Fixierung wird vermieden), zeitliche Flexibilität (Werke/Projekte sind nicht mehr für die „Ewigkeit“ konzipiert, bleiben offen für Veränderungen), Kollektivität (statt monologisch-„genialer“ Produktion) und Performativität (politisch Handeln statt nur zeigend zu Präsentieren).
Den Arbeiten auf der documenta 15 sind diese Prinzipien in unterschiedlichen Ausprägungen deutlich abzulesen und das, was man einmal als „Autonomie der Kunst“ gedacht hat, sucht man hier vergebens. Was viele der von dir erwähnten „westlichen Gatekeeper“ nun nicht wahrhaben wollen, es wäre wohl für sie mit herben (diskursiven) Machtverlust verbunden, ist die Tatsache, auf die schon Peter Bürger in seiner „Theorie der Avantgarde“ (1974) hingewiesen hat: „Die Autonomie der Kunst ist eine Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Sie erlaubt die geschichtlich entstandene Herauslösung der Kunst aus lebenspraktischen Bezügen zu beschreiben“. Letztere sei also „ein historischer Prozess“. Auch daraus folgt, dass die Autonomie der Kunst eben keine Bestimmung für Kunst ist, die für immer festgeschrieben ist, sondern eine „ideologische Kategorie“ darstellt. Es ist also Unsinn, dass, wie jetzt viele dieser „westlichen Gatekeeper“ versuchen zu behaupten, auf der documenta 15 die Kunst „abgeschafft“ wird. Vielmehr nimmt sie eine historische neue Gestalt an, unter anderem auch deswegen, weil die Autonomie der Kunst einen gesellschaftlichen Zustand erfordert, so schreibt Peter Bürger zutreffend, der „vom Druck unmittelbarer Daseinsbewältigung freigesetzt“ ist, also Weizen etwa nicht mehr dringend als (Über)Lebensmittel gebraucht wird, sondern für eine Installation benutzt werden kann. Genau dieses trifft heute aber auf immer weniger Gesellschaften und Menschen zu und darauf reagiert diese Kunst.
Wie mit diesem Paradigmenwechsel in nächster Zeit von dem westlichen Kunstbetrieb umgegangen wird, das bleibt abzuwarten. Ich denke das Betriebssystem Kunst wird sich weiter aufspalten. Vereinfacht formuliert: Galerien- und auf Objekten basierende Ausstellungskunst auf der einen Seite, politische Projektkunst auf der anderen. Aber ich bin kein Prophet.

Britto Arts Trust, Chayachobi, Mural Project on Bangla Cinema, 2021/22, Installationsansicht, documenta Halle, documenta 15, 2022
Foto: Amanshauser

HA: Ja, das sehe ich ähnlich. Ich würde gerne etwas spezifischer werden. Ein Ausstellungsraum, wo die documenta als Ausstellung sehr gut funktioniert, ist beispielsweise die documenta Halle. Da gibt es einen Film von Wakaliga Uganda ein sehr lustiger Actionfilm, der etwas über eine bestimmte Filmszene in Uganda zeigt und in seiner Ästhetik zwischen Trash und Pop changiert. Dann etliche Arbeiten von Britto Arts Trust aus Bangladesch, die einen Garten außerhalb der Halle angelegt haben und dort kochen, aber auch eine mehrteilige Videoprojektion über die Grenze zwischen Bangladesch und Indien zeigen, die sich u.a. mit den Wunden, die der Kolonialismus hier hinterlassen hat, befasst. Tanja Bruguera präsentiert alle paar Tage eine neue Ausstellung über kubanische Kunst mit Vorträgen etc., sie selbst kann ja leider nicht mehr in ihr Heimatland zurück, weil sie sonst sehr lange eingesperrt würde. Aber warum hat es als Ausstellung funktioniert? Ich weiß es nicht genau, aber es entstand eine sehr dichte Atmosphäre, vielleicht bedingt durch das verbindende Element, dass die Kunstschaffenden aus postkolonialen Gesellschaften kommen, alle aber sehr individuelle und beeindruckende Ästhetiken und Ausdruckformen finden. Die Kunstwerke führen die Besucher:innen an ganz unterschiedliche Weltgegenden und erzählen verschiedenen oft komplexe Geschichten. Ich hatte das Glück, dass ich einigen dieser Protagonist:innen schon begegnet bin und daher den Hintergrund von deren Produktion ein bisschen kenne. In anderen Teilen der Ausstellung wusste ich oft nicht so genau, worum ging und wie ich einen Zugang finde. Ich habe eine Möglichkeit gesucht, durch die Ausstellung zu navigieren und spontan herauszufiltern, was mich gerade interessierte, dabei habe ich natürlich auch vieles nicht beachtet und sicher auch übersehen. Ich denke, ich bin durch die Ausstellung gegangen, wie durch jede andere auch und hab mir die „klassischen Kunstwerke“ herausgesucht und alles was Workshop, selber machen, oder Beteiligung war einfach weggelassen. Ich habe also, obwohl ich das Konzept so außergewöhnlich finde, gerade wieder das gesehen, was ich kenne, eine „normale“ Ausstellung.
Wie hast du deinen Weg durch die Ausstellung gefunden?

RST: Ich war mit Freunden unterwegs und wir haben uns „treiben lassen“, ganz im Sinne der Situationisten ... Aber deine Frage zielt, glaube ich, woanders hin, nämlich nach der Notwendigkeit der „Kontextualisierung der Arbeiten“, wie es heute heißt, weil die Besucher:innen sonst „nicht genau wissen, worum es geht“. Ich gebe zu, dass mir diese Forderung auf den Nerven geht, denn dieses „Kontextualisieren“ erinnert mich an das Konfigurieren von Computer, also daran, dass man erst einmal seine Rezeptionsprogramme so zusammenstellen lassen muss, dass man funktioniert. Ich vertraue immer noch darauf, dass Menschen selber denken können, dass sie sich informieren können, Googeln, Texte lesen... Das kostet Zeit, aber dafür ist diese ja auch da.
Mein Problem bei der Wahrnehmung dieser documenta 15 liegt eher bei dem Format Ausstellung, das ja in Europa, wie Walter Benjamin einmal in seiner „Passagenarbeit“ (1927 – 1940) notiert hat, sich aus dem Ausstellungswesen der Weltausstellungen entwickelt hat. Es geht also von Anfang an darum, Dinge und Waren zu präsentieren. Inwieweit lässt sich dieses Format heute dehnen? Kann Projekt basierte Kunst auf einer Ausstellung überhaupt adäquat „präsentiert“ werden oder bedarf es da nicht eher einer (wochenlangen) Partizipation der Besucher:innen, die aber kaum jemanden auf so einer Ausstellung möglich ist?
Du hast ja einmal den Kunstverein Salzburg geleitet. Wie würdest du heute in einer solchen Institution, Projekt basierte Kunst vorstellen?

Taring Padi, Installationsansicht documenta 15, 2022, Hallenbad Ost
Foto: Amanshauser

HA: Da triffst du einen sehr wichtigen Punkt. Ich habe gerade gestern mit einer Freundin über die Frage gesprochen, ob nicht die documenta fifteen konsequenter Weise die letzte ihrer Art sein müsste. Dass es also konzeptuell nicht mehr weiter gehen kann, wenn die Kurator:innen so viel, was man mit Kurator:in sein verbunden wird, aus der Hand geben, angefangen von der Auswahl der Teilnehmenden.
Zum Kunstverein, gute Frage, wie hätte ich das gemacht? Ich habe immer versucht, das Medium Ausstellung genau zu befragen und an seine Grenzen zu gehen, von 40 Tage/20 Ausstellungen bis 100 Tage keine Ausstellung (mit einer ironischen Anspielung an die Dauer der documenta). Out of the blue kann ich deine Frage nicht beantworten, wir müssen uns zunächst fragen, was ist das Besondere an der documenta, an dieser documenta ist? Mir scheint, ein wichtiges Momentum ist, dass hier so viele Kunstschaffende aus der ganzen Welt zusammenkommen und von sich und ihrer Kunst und ihrer Sicht auf die Welt „berichten“ und auch miteinander in Kontakt treten, da entsteht etwas Neues. Wie könnte man das für ein großes Publikum, das sowohl lokal als auch weltweit ist, erfahrbar machen? Welche Rolle haben die Besucher:inneren bei der documenta? Sind wir da nicht beim Konzept von Lumbung?

RST: Ja, Lumbung: Dieser Leitgedanke der documenta 15 bezieht sich bekanntlich auf die kommunale Reisscheune in Indonesien, in der Reisüberschüsse lagern, die gemeinschaftlich geteilt werden. Dieses Teilen von Ressourcen, aber auch von Wissen, Freude und Engagement steht hier im Zentrum des kuratorischen Konzeptes. In der deutschen Zeitung „Die Welt“ hat Deniz Yücel dieses Lumbung-Prinzip als „Reisscheunenkitsch“ diffamiert. Bazon Brock sprach gar von „Schafsgeblöcke“. Da wird überdeutlich, dass viele (Wert)Konservative offensichtlich inzwischen ein so verqueres Menschenbild haben, dass sie die Möglichkeiten von Solidarität, sozialem Handeln und Empathie den Menschen nicht mehr zutrauen, er kann von ihnen nur noch als brav konsumierendes Subjekt verstanden werden. Ganz anders die Besucher:innen der documenta 15, die die Ausstellung und ihr besondere Atmosphäre des so verantwortungs- wie lustvollen Miteinander (ganz ohne eitle Künstler:innen-Stars) sichtlich genossen haben.

HA: Die Besucher:innen haben die „besondere Atmosphäre des so verantwortungs- wie lustvollen Miteinander (ganz ohne eitle Künstler:innen-Stars) sichtlich genossen haben.“ Woher weißt du das? Ist das eine Beobachtung? Beruht das auf Empirie?

Sandershaus, Installationsansicht, documenta 15, 2022
Foto: Amanshauser

RST: Ja, das ist eine empirische Beobachtung. Die Schlangen zum Beispiel vor dem Fridericianum sprechen auch eine deutliche Sprache, die deutlich macht, dass es den deutschen „Leitmedien“ nicht gelingt, die documenta 15 so zu skandalisieren, dass sie niemand mehr sehen will.

HA: Da habe ich Zweifel, mir erscheint das doch wenig differenziert.
Als ich im Fridericianum war, waren ganz wenige Besucher:innen, insgesamt hat mich die Präsentation dort an eine politische Veranstaltung der 1970er oder 80er Jahre erinnert, mit unzähligen Infoständen, nur dass die Protagonist:innen weitgehend gefehlt haben, alles war ein bisschen verwaist.
Die Frage, die ich mir stelle, ist: Hat es vielleicht eine Veränderung im Publikum gegeben, von dem ganz „typischen Kunstpublikum“ zu einem breiteren Publikum, das möglicher Weise weit gereist ist und keine strikte Vorstellung von dem hat, was „Kunst heute sein muss“ und daher mit dem Nebeneinander von „Volkskunst“ „Politkunst“ und anderer Kunst gut umgehen kann. Unter meinen Kunstbetriebsfreund:innen gibt es doch einige, die gar nicht auf die documenta fahren oder äußerst skeptisch zurückgekommen sind. Aber wie macht man das tatsächlich empirisch fest? Was du oder ich beobachten, ist ja nicht wirklich repräsentativ oder?

RST: Die Besucherzahlen zur Halbzeit jedenfalls waren sehr hoch. Mal sehen, wie sie am Ende sein werden. (1) Klar, muss man auf genauere Analysen warten, aber auch nach meiner Einschätzung und der einiger befreundeten Teilnehnmer:innen ist es tatsächlich so, dass ein „breiteres Publikum“ diese Ausstellung besucht. Gut so, denn der Inner Circle der better educated people etc. hat die Kunst doch in den letzten Jahren wieder zu einem arg elitären, betriebsinternen Spielchen degradiert. Alle Versuche eine „Kunst für Alle“ (Hilmar Hoffmann) zu fördern, werden da schnell als „populistisch“ beschimpft, man will unter sich bleiben … Auch diese horizontale Öffnung, die der documenta 15 da gelungen ist, ist wohl ein Grund für die mediale Hetzjagd, der sie jetzt ausgesetzt ist. Und dafür, dass einige deiner „Kunstbetriebsfreund:innen“ gar nicht erst nach Kassel fahren. Diese Leute sollten sich klar sein, das der Begriff „Populismus“, der heute vor allem als Charakterisierung von rechts-nationalistischen Strömungen eingesetzt wird, in der linken Soziologie, etwa bei Chantal Mouffe und Ernesto Laclau, eine durchaus positive und progressive Rolle spielt, unter anderem deswegen weil mit ihm, dem Linkspopulismus, die Demokratie wieder zu einer Demokratie werden soll, die die Politik, vereinfacht formuliert, nicht mehr nur den neoliberalen Eliten überlässt, sondern wieder tatsächlich eine Angelegenheit aller Menschen wird.

HA: Da triffst du einen guten Punkt, die Frage ist doch, was nehmen die Menschen aus der Ausstellung mit, um mit ruangrupa zu sprechen: was lernen sie?

RST: Jeder „nimmt“ natürlich etwas anderes mit, was aber wohl für alle eine wichtige Erfahrung sein wird, ist, dass Kunst mehr sein kann als nur das, was im white cube steht, hängt oder flimmert, dass Kunst etwas ist, was jeden angeht und auch jedem die Möglichkeit gibt zu partizipieren. Und dass man/frau im „globalen Süden“ ganz anders auf Welt schaut als in den mehr oder weniger reichen Industrienationen der „1. Welt“.

HA: Was denkst du, wird die documenta bis zum Schluss laufen? Es gibt ja grad wieder heftige Anwürfe?

RST: Ja, es gibt wieder heftige Vorwürfe, die eindeutig auf Zensur hinauslaufen, und nicht zum ersten Mal werden die Kurator:innen überaus respektlos behandelt. Die Kunstfreiheit wird dadurch, wie leider so oft im Laufe dieser documenta, in Frage gestellt, nicht nur vom Zentralrat der Juden, sondern auch von der Kulturministerin Claudia Roth und Teilen der Medien. Darum finde es wichtig, gegen diesen Ungeist jetzt endlich energischen Widerstand zu leisten. Wenn ruangruga jetzt die documenta 15 vorzeitig beenden würden, wäre dies, auch wenn die Ausstellung fast schon vorbei ist, ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass man nicht bereit ist, sich alles gefallen zu lassen.

  1. Am Ende waren es 738.000 Besucher:innen. Die Zahl lag 17% unter denen von 2017 und damit höher als die Erwartungen der Veranstalter und des Tourismus.

    Raimar Stange ist freier Kurator und Kunstpublizist. Er schreibt u.a. für die Kunstmagazine Monopol, Kunst-Bulletin, artmagazine.cc., Artist. Ausstellungen u.a.: Rechts, 2018, Haus am Lützowplatz, Berlin; Demokratie Heute – Probleme der Repräsentation 2021, KINDL Zentrum für zeitgenössische Kunst, Berlin; Goodbye World, 2021, Apexart, New York (mit Andreas Templin).

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Elad Lapidot über die documenta und die Antisemitismus Debatte

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Being faced with „the black page”