Ich versuche mit meinen Ausstellungen eine Art von Storytelling

Nina Tabassomi im Gespräch mit Hildegund Amanshauser, Innsbruck 27.04.2022

Porträt Nina Tabassomi
Foto: Günter Kresser

Hildegund Amanshauser: Die Idee dieser Interviewserie ist, unterschiedliche Kurator*innen und Verantwortliche von Kunstinstitutionen zu befragen vor dem Hintergrund meines Interesses an globaler Kunstgeschichte und an Ausstellungen und Ausstellungsprogrammen, die von einem globalen Blick geprägt sind.
Du machst das TAXISPALAIS Kunsthalle Tirol seit 2017, deine Schwerpunkt sind, wenn ich das richtig sehe, thematische Gruppenausstellungen, erste Einzelausstellungen von Künstler*innen in Österreich und diskursive Veranstaltungen. Du hast einen globalen Blick und integrierst Kunstschaffende aus der ganzen Welt. Das TAXISPALAIS hat eine interessante Geschichte. Mein Eindruck ist, du knüpfst bei Silvia Eiblmayr mit ihrem feministisch geprägten Programm an und öffnest dieses global. Wie würdest du die Leitgedanken beschreiben, die dein kuratorisches Programm bestimmen?

Elisabeth von Samsonow, Die Zugehörigkeit zum Sonnensystem, 2021, Polytheismus, 2022, Ausstellungsansicht Göttinnen, Kunsthalle Tirol 2022
Courtesy: die Künstlerin, Foto: Andreas Leitner

Nina Tabassomi: Meine Hauptfrage ist, was können wir in solchen institutionellen Räumen gesellschaftspolitisch leisten? Wie können wir unsere Funktion in einem größeren Gefüge denken und konturieren? Mich interessiert dabei, auf das Systemische zu reflektieren, nicht nur die Symptome aufzuzeigen, die wir in der Alltagswelt meistens in den Fokus rücken. Wir fragen uns im TAXISPALAIS, welche tieferliegenden Strukturen haben zu eben diesen Problemen geführt, die wir diskutieren. In diesem Kontext bin ich, wie Du sagtest, auch überzeugt, dass wir eine feministische Herangehensweise benötigen, eine, die Männer natürlich inkludiert und alle anderen Geschlechter auch, eine, die aufs Ende des Patriachats zielt, das sehr viele Auswirkungen hat, wie wir zum Bespiel in unserem Umgang mit dem Planeten sehen. Deswegen würde ich auch eher sagen, unser Programm ist intersektional. Ich möchte gemeinsam mit Künstler*innen der Gegenwart fragen, wie die unterschiedlichen Szenarien von Ausschlüssen, Entwertungen und Ungleichheiten miteinander zusammenhängen. Aber auch Positionen der jüngeren Vergangenheit können in diesem Zusammenhang wichtig werden, so habe ich eine Retrospektive mit Corita Kent kuratiert, einer nicht mehr lebenden Künstlerin. Die Arbeiten, die wir gezeigt haben, waren alle aus den 1960er und 70er Jahren. Diese Arbeiten in einer Kunsthalle zu zeigen, heißt zu fragen, wo können wir heute anknüpfen an die Vorschläge dieser künstlerischen Auseinandersetzung? Mir sind diese Verknüpfungsprozesse oder auch das Weiterschreiben von Vorgänger*innen-Generationen, die Relevantes geleistet haben, wichtig, ein Punkt vielleicht, der mir manchmal unterzugehen scheint. Es ist doch spannender, weniger in einer Logik von Brüchen und Zäsuren zu denken, sondern nach Allianzen, Korrespondenzen oder Überschneidungen zu suchen. Zum Thema global: Natürlich sind mir internationale Diskurse wichtig, weil wir ja auf einem Planeten leben, aber ich überlege zugleich immer sehr genau, wie man diese auch mit der konkreten Situation hier in Resonanz, ins Schwingen bringt, so dass die Besucher*innen vor Ort Anknüpfungspunkte finden. Es ist wichtig, Fragestellungen aus dem jeweiligen Kontext, aus der jeweiligen Situation vor Ort heraus zu denken. Ein „Trick“, den ich dafür hier in Innsbruck entwickelt habe, den ich vorher so nicht gemacht habe, sind diese vermeintlich einfachen Titel für die Ausstellungen. Meine Antrittsausstellung hieß noch „ACCENTISMS“, es ging um Akzente. Es war ein relativ komplexer Titel mit einem Wort, das es gar nicht gibt, also einem Neologismus. Danach habe ich die Trilogie „LIEBEN“, „LACHEN“, „SEX“ gemacht, in der es um politische Szenarien wie Revolution, andere ökonomische Modelle und das Genießen von Ambivalenzen ging, aber eben ausgehend von Alltagspraktiken, die alle Besucher*innen kennen. In der neuen Trilogie haben wir Titel wie „HEXEN“, „GÖTTINNEN“ und „ZEITGESCHICHTEN“. Da wird es also schon komplizierter – wir kennen zwar alle die Begriffe, aber eigentlich müssen wir erst diskutieren, was wir darunter verstehen möchten. Was mich an diesen scheinbar einfachen Titeln interessiert, ist, dass die Besucher*innen schon im Dialog mit der Ausstellung sind, wenn sie das TAXISPALAIS betreten. Mir ist es wichtig, dass die Besucher*innen mit den künstlerischen Arbeiten, die wir hier zeigen, in Austausch geraten. Es geht nicht darum, dass wir etwas erklären, was wir selbst schon längst verstanden haben. Ich mache nie eine Ausstellung zu einer Fragestellung, deren Antwort ich kenne. Viel eher will ich Fragen von Künstler*innen und meine Fragen mit dem Publikum teilen.

Karrabing Film Collective, Just Because you Can’t See it..., 2020 HD-Video, Ausstellungsansicht Göttinnen, Taxispalais Kunsthalle Tirol 2022
Courtesy: das Kollektiv, Foto: Günter Kresser

HA: Mir ist aufgefallen, dass du bei den begleitenden Texten über die Künstler*innen nicht sagst, welcher Nationalität sie sind, wo sie geboren sind oder wo sie leben. Und wenn ich das recht sehe, thematisierst du auch nicht deinen familiären Hintergrund. Bei der letzten Ausstellung „GÖTTINNEN“ führst du das noch weiter und hast auch gar keine Erklärungstexte mehr. Was ist das für ein Konzept?

NT: Mit dem Weglassen der Biografien ist es ein Konzept, von dem ich nicht glaube, dass es schon die Lösung ist, aber mir fällt derzeit nichts Zielführenderes ein. Bei Künstler*innen aus Europa oder Nordamerika wird in der Rezeption normalerweise nur der Name gesagt und dann über die Arbeiten gesprochen. Alle, die nicht aus diesen Regionen kommen, werden jedoch sehr schnell reduziert auf ihre Herkunft und werden dann auch von Journalist*innen über die Probleme des Landes, aus dem sie kommen, befragt. Teilweise spielen diese ja gar keine Rolle in deren künstlerischer Arbeit. Deswegen dachte ich, jetzt leite ich eine Institution, jetzt kann ich es selber entscheiden, auch die Presse kriegt diese Unterlagen von mir nicht. Wenn sie fragen, verheimliche ich es nicht und natürlich spielen der Lebenskontext und auch die Produktionsbedingungen in einem Land eine Rolle. Es spielt auch eine Rolle, wo man aufgewachsen ist, aber da ich den Eindruck habe, dass mit diesen Informationen allzu häufig verkürzend umgegangen wird, bevorzuge ich es, sie nicht in den Vordergrund zu stellen, sofern sie keine Rolle für die künstlerische Arbeit selbst spielen. Ich habe sie ja eingeladen, weil ich ihre Arbeit so interessant finde. Auch in der Diskussion um russische oder ukrainische Künstler*innen lässt sich gerade wieder diese Tendenz erkennen, dass die ukrainischen Künstler*innen über ihr Leid und die russischen über die politischen Missstände in ihrem Land sprechen sollen. Aber von österreichischen Künstler*innen erwarten wir ja auch nicht, dass alle Arbeiten über die FPÖ machen. Ich finde es ist einfach nicht die Aufgabe von europäischen Institutionen, Künstler*innen aus anderen Zusammenhängen zu erklären, was wir von ihnen jetzt sehen wollen, wie sie zu arbeiten haben.
Das Weglassen der Erklärungstexte wie wir es in der „GÖTTINNEN“-Ausstellung hatten, das ist noch einmal etwas anderes. Das machen wir sonst nicht, das ist wirklich ein Experiment in dieser konkreten Ausstellung, die generell experimentell angelegt ist. Ich dachte, wenn wir über den Versuch einer neuen Logik sprechen, dann wirbeln wir auch gleich unsere eigenen Ausstellungsparameter durcheinander. In den letzten ca. zehn Jahren hat sich die Tendenz verschärft, dass zum Beispiel Journalist*innen über Ausstellungen von Gegenwartskunst immer wieder schreiben: „wenn ich da die Nachhilfe der Kurator*in nicht erhalten hätte, dann hätte ich ja gar nichts verstanden.“ Manchmal habe ich solche Sätze über Ausstellungen gelesen und diese Ausstellungen danach gesehen und dachte, wow, das sind sehr sprechende und sinnliche Videos, Bilder oder Installationen und was soll das bitte heißen, es würde sich nichts erschließen lassen, wenn es keine kuratorischen Erklärungen gegeben hätte. Der Glaube, es ginge darum, die Kunst eindeutig verstehen zu müssen, scheint zugenommen zu haben. Es gibt natürlich wichtige Informationen, die teilweise notwendig für die Auseinandersetzung mit Arbeiten der Gegenwartskunst sind, diese haben wir selbstredend auch bei der „GÖTTINNEN“-Ausstellung in unserem Booklet, z.B. historische Bezüge, wichtige Referenzen und Materialien etc. Es geht beim Besuch einer Ausstellung aber vorrangig um die Auseinandersetzung der Besucher*innen mit der Arbeit und nicht um ein Auswendiglernen der kuratorischen Interpretation. Gegenwartskunst beschäftigt sich ja meistens mit unser aller Gegenwart. Aber es ist trotzdem ein einmaliger Versuch in dieser Ausstellung die kuratorischen Erklärungstexte wegzulassen, es ist ein Versuch und nicht die Lösung, weil wir damit auch teilweise Kontextualisierungen vorenthalten. Ich finde es allerdings spannend, wie intensiv sich unsere Besucher*innen jetzt mit den Arbeiten auseinandersetzen. Und ich hoffe, dass das kurze Schweigen kuratorischer Interpretation und die damit einhergehenden verstärkten eigenen Debatten unseres Publikums auch in den kommenden Ausstellungen zu einem anderen Umgang mit den Erklärungstexten führen, so dass sie Denkimpulse aufgreifen, aber diese Texte nicht als Wahrheit, sondern Interpretation einer fachlich versierten Person wahrnehmen.

HA: Damit werden auch die Besucher*innen wichtiger, weil sie sich allein damit auseinandersetzen müssen. Und Google ist ja nicht abgeschafft, man kann ja selbst recherchieren.

NT: Künstlerische Arbeiten gehen immer über eindeutige Interpretationen hinaus, sie sind vielschichtig, ambivalent und lassen sich eben nicht in fünf Sätzen auf den Punkt bringen. Sonst bräuchten wir keine Kunst mehr, sondern nur noch Statements.

Pauline Curnier, Jardin Qu'un sang impur (Film Still), 2019, Ausstellung Hexen, Taxispalais Kunsthalle Tirol 2021
Courtesy: die Künstlerin und Ellen de Bruijne Projects, Amsterdam

HA: Wie recherchierst du dein Programm? Es ist schon schwer genug, zeitgenössische Kunst aus dem Westen zu kennen, aber zeitgenössische Kunst aus der ganzen Welt ist natürlich noch mal eine viel größere Herausforderung. Spielt dein Studium von Theater- und Literaturwissenschaft da auch eine Rolle?

NT: Es gibt keinen klaren Ablaufplan für die Recherche. Ich versuche, sehr viel zu sehen, und ich möchte auch langfristig größere und längere Recherchereisen machen. Das ist aber im System nicht so richtig vorgesehen. Da gibt es institutionell generell noch viel zu tun, würde ich sagen. In den 00er Jahren, als Kurator*innen geglaubt haben, sie müssen jetzt globaler werden, haben viele Kurztrips gemacht, und mal eine Szene in drei Tagen gescannt. Heute sind sich die meisten darüber einig, wie problematisch das war. Meine Recherche passiert durch Anschauen, durch Hören, Atelierbesuche, Austausch mit Künstler*innen wie Kolleg*innen und lesen.

HA: Global machst du online Studiovisits?

NT: Ja, das mache ich auch. Es ist nicht so richtig ideal. Ich bevorzuge es auf jeden Fall, mit jemandem ein paar Stunden im Studio zu sein. Bei mir dauert ein Atelierbesuch auch immer viel länger, als ich es plane. Natürlich ist es etwas anderes, sich mit einer Künstler*in und ihren Arbeiten in physischer Präsenz auseinander zu setzen. Aber ich finde, wenn man Arbeiten schon mal gesehen hat, dann geht es auch online ganz gut.

HA: Wie kommst du zu deinen Themen?

Corita Kent, american sampler, 1969, Ausstellung Corita Kent: Joyful Revolutionary, Taxispalais Kunsthalle Tirol, 2020
Courtesy: Corita Art Center, Immaculate Heart Community, Los Angeles, Foto: Arthur Evans

NT: Zu meinen Themen komme ich durch künstlerische Arbeiten, die ich sehe, aber auch durch Texte, die ich lese oder ganz allgemein durch das, was in der Welt gerade passiert. Wir zeigen jetzt gerade aber keine Kriegsausstellung, sondern die „GÖTTINNEN“. Die Ausstellung passt für mich allerdings sehr gut in diese Zeit. Die Themen darin sind eingebettet in die Fragen, die uns generell beschäftigen und von denen ich sicher bin, dass wir sie in der Kunst ganz anders verhandeln können. Ich finde es zum Beispiel bemerkenswert, dass wir in allen künstlerischen Sprachen, ob das bildende Kunst, Theater, Literatur oder Musik ist, Schmerz so unglaublich gut verhandeln können. Mir fällt kein anderer Bereich ein, in dem wir Schmerz und Leid ähnlich artikulieren können, ohne die Opfer zum zweiten Mal zum Opfer werden zu lassen. Die Künste können solche Erfahrungen teilen oder auch diskutieren, ohne in diese Viktimisierungsfalle zu tappen. Deshalb ist Kunst eine wirklich sehr wichtige Form von Kommunikation. Oder auch Komplexität und Ambivalenz, die können wir in künstlerischen Arbeiten gut aushalten, im Alltagsleben gibt es ja dafür gar keinen Raum.

HA: Aber warum gerade Schmerz?

NT: Ein großer Teil unserer Krisen und Konflikte beruht doch darauf, dass wir Dinge nur aus unserer eigenen Perspektive wahrnehmen und je nachdem, wie viele Privilegien wir innehaben und wie nahe an Machtzentren wir dran sind, auch meinen, dass es sich bei dieser Perspektive um eine universelle Wahrheit handelt. Schmerz artikulieren zu können, bedeutet die Möglichkeit, andere Formen von Empathie einzuüben.

HA: In der bildenden Kunst ist der Zeitbegriff ein anderer, als in Medien die konsekutiv erfahren werden. Das Simultane macht etwas mit den Betrachter*innen.

NT: Das ist schön, dass du die Zeitlichkeit einbringst, denn das ist tatsächlich etwas, was mich gerade sehr stark beschäftigt. Es wird im dritten Teil der Trilogie „ZEITGESCHICHTEN“ eine große Rolle spielen, aber eigentlich auch schon bei den „GÖTTINNEN“, weil diese westliche lineare Zeitvorstellung meines Erachtens eine wichtige Matrix für unsere Sackgassen darstellt. So wie die Vorstellung vom Fortschritt, dass immer alles besser wird, oder auch unsere Beziehung zu unseren nicht nur menschlichen Toten und Vorfahren, eine Beziehung, die im Westen eigentlich gar nicht wirklich gelebt wird. Wenn wir nicht daran glauben würden, dass immer alles besser wird, sondern alles auch ganz anders sein könnte, würde dieses Wissen viele Effekte in sehr vielen Bereichen zeitigen. Die westliche Kunstgeschichte denkt ja auch stark in Entwicklungen, Avantgarde, Brüchen und Gegenbewegungen usw. In anderen Kontexten geht es auch sehr viel um Meister*innenschaft, um das Erlernen, den Respekt vor den Vorgänger*innen. Möglichkeiten von Veränderungen werden dabei erdacht und geschaffen, aber die Veränderung ergibt sich eher in der Wiederholung, also nicht im starken Abgrenzen oder Bruch.

HA: Ich würde gerne noch auf deine Vermittlung, die bei dir eine große Rolle spielt, zu sprechen kommen. Wie gehst du mit deinem Publikum um? Mir scheint das ist auch Teil von deinem Erfolg in Innsbruck. Wie funktioniert es?

Ursula Beiler, Kummernuss, 2022, Performance Ausstellung Göttinnen, Taxispalais Kunsthalle Tirol 2022
Foto: Günter Kresser 

NT: Ich muss sagen, ich schätze das Publikum in Tirol sehr, weil die Besucher*innen sehr offen sind und es sehr selten passiert, dass jemand kommt und sagt, aber das muss doch jetzt so und so sein. Was ich sehr schön finde in Innsbruck, ist, dass unser Publikum bereit ist, sich auf Experimente einzulassen. Sie können danach auch sagen: naja, das hat uns nicht so überzeugt. Und natürlich provoziere ich das mit den Titeln, weil es eine implizite Einladung ist, komm‘ mal mit deinen Vorstellungen hierher und du wirst höchstwahrscheinlich nicht genau das finden, was du erwartest. Selbstverständlich kommen auch Leute angereist, und es ist natürlich auch unser Auftrag, nach außen zu strahlen. Aber ich konzipiere das Programm als Nahversorgung für die Menschen hier, denn wenn sie nicht mitgenommen werden, kann eine Institution nicht funktionieren. Ich frage mich bei jeder Ausstellung sehr genau, was diese Ausstellung vor Ort bewirken könnte, wie sie im jeweiligen Kontext situiert ist.
Als regelmäßige Veranstaltung habe ich ein Format eingeführt, das „Unser Team führt“ heißt, in dem fast alle meine Mitarbeiter*innen Führungen machen und die Besucher*innen wissen, welche Funktion diese Person in der Kunsthalle hat. Es ist interessant, wenn nicht nur klassisch in der Vermittlung ausgebildete Personen durch die Ausstellung führen – obwohl ich natürlich auch eine wunderbare Vermittlerin im Team habe –, sondern darüber hinaus andere Personen mit anderen Sprecher*innenpositionen ihre Sicht dem Publikum vorstellen. Vor der Pandemie hab‘ ich immer Workshops gegeben, in denen ich die Literatur mit den Teilnehmer*innen geteilt habe, die ich im Vorfeld gelesen habe, und diese Textauszüge haben wir dann gemeinsam diskutiert.

HA: Wer kommt da?

NT: Das ist das Tolle in Innsbruck, dass es möglich ist, mit so einem Workshop ganz unterschiedliche Gruppen zu adressieren: es kommen Studierende, aber auch die Juristin und der Arzt, der diese Art von Texten nicht häufig liest, aber natürlich auch sehr viel beitragen kann aus seiner Perspektive und aus einer anderen Generation. Da gibt’s immer spannende Diskussionen. Ich schätze das an kleineren Städten, dass man sich an diesen Orten wie dem TAXISPALAIS versammelt und miteinander ins Gespräch kommt, im Gegensatz zu den Metropolen, wo es häufig nur möglich ist, die Leute zu erreichen, die eh schon alle dieselben Texte gelesen haben. Wobei wir natürlich alle noch daran arbeiten müssen, ein wirklich diverseres Publikum anzusprechen. Wenn wir über Vermittlung sprechen, ist mein Grundansatz, dass wir eben nicht so tun sollten, als ob wir schon alles wüssten. Ein Großteil von Vermittlungskonzepten beruht darauf, dass gedacht wird, wir haben etwas schon verstanden und nun erklären wir das denjenigen, die es noch nicht wissen. Ich sehe das ein wenig anders, und daher kam auch meine Idee für das Experiment bei „GÖTTINNEN“, die Arbeiten nach und nach aufbauen zu lassen. Das sehe ich als Vermittlungsarbeit. Da entwickelt sich ein Geschehen, das sich nicht genau kontrollieren lässt. Für die Künstler*in, mich und mein Team ist es natürlich auch nicht so angenehm aufzubauen, wenn Leute kommen. Oder es haben sich uns Fragen gestellt wie: Machen wir schon eine Pressekonferenz, wo doch erst eine Arbeit aufgebaut ist etc.? Das Konzept hat uns permanent auch selbst mit ungewohnten Situationen konfrontiert.

HA: Damit ich es richtig verstehe: Ihr habt die Ausstellung sukzessive aufgebaut, sie ist langsam gewachsen, es ist nichts zwischendurch abgebaut worden?

NT: Ja, so war es.
Mein Ansatz in der Vermittlung ist, wirkliche und ehrliche Fragen zu stellen. Es geht zunächst darum, die Fragen anders zu stellen, als wir es gewohnt sind. Daraus resultiert dann meistens, dass es keine einfachen Antworten geben kann. Ich glaube, dass Besucher*innen spüren, ob die künstlerischen und kuratorischen Fragen rhetorischer Natur sind oder ob die involvierten Personen ein ernsthaftes Interesse an der Präzisierung der Fragenstellung haben. Die Besucher*innen werden nicht nur eingeladen, Thesen nachzuvollziehen, sondern an Problemstellungen teilzuhaben und mitzuarbeiten.

HA: Ja, weil die Hierarchien aufgelöst werden und man nicht von oben herab erklärt.

NT: Ich denke, Personen können nur gut kuratieren oder gute Kunst machen, wenn sie selbst ein Problem mit dem Zustand der Welt haben. Wenn im Großen und Ganzen eh schon alles ganz OK wäre und es keine grundlegenden Fragen gäbe, dann bräuchte es vielleicht keine Ausstellung. Wenn sich die involvierten Personen schon langweilen, dann wird es fürs Publikum garantiert auch langweilig.

HA: Was ich an Gruppenausstellungen so interessant finde ist, dass die Arbeiten miteinander ins Gespräch kommen. 1+1 ist eben dann 3.

NT: Das ist definitiv das Spannende daran. Normalerweise dauert der Aufbau zwei Wochen, und ich bin auf allen Baustellen gleichzeitig. Bei den „GÖTTINNEN“ mit dem Aufbau in Etappen habe auch ich selber viel bewusster erfahren, wie sich zum Beispiel die Arbeiten von Elisabeth von Samsonow auch noch mal verändern, wenn jetzt Tejal Shahs Arbeit direkt dahinter ist. Dieses Zusammenspiel verschiedener Arbeiten in einer Gruppenausstellung konzipiere ich als Kuratorin natürlich schon lange im Vorfeld und versuche dabei unterschiedlichste Details des gemeinsamen Wirkens und Einfärbens der Arbeiten zu antizipieren, und trotzdem ist es immer noch etwas anderes, wenn es dann wirklich gelebt wird, dann erkenne ich auch selbst Überraschendes. Mich interessiert selbstredend auch sehr stark, wie die Künstler*innen in Dialog treten mit einem Thema. Die Fragestellungen und Titel versuche ich ja immer relativ offen zu halten. Mir ist es ein wichtiges Anliegen, dass die Arbeiten nicht ein Thema illustrieren, das sie nicht unter ein Thema subsummiert werden. Und nach Vollständigkeit trachte ich auch nicht. Ich arbeite sehr gerne mit Neuproduktionen, das finde ich auch eine Aufgabe von solchen Institutionen. Die Künstler*innen schaffen dann gemeinsam diese Ausstellung oder schreiben diese Erzählung. Ich versuche mit meinen Ausstellungen eine Art von Storytelling: Ein polyphones Erzählen, das nicht in eine ganz klare Erzählung, sondern in eine sinnliche und erfahrungsräumliche Diskussion mündet.

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Being faced with „the black page”

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Der Deutsche und der Spanische Pavillon, Biennale Venedig 2022