Der „Dwindler“ und sein Team

Nairy Baghramian in der Wiener Secession 2021/22

Nairy Baghramian, Breath Holding Spell, 2021, Ausstellungsansicht Secession 2021
Foto: Werner Kaligofsky, Bildrecht, Secession 2021

Verfolgt man Nairy Baghramians Ausstellungstätigkeit der letzten Jahre, hat der „Dwindler“ darin einen wichtigen Stellenwert. Die offenen und hohlen zylindrischen Konstruktionen aus Glas, Metall und fallweise anderen Materialien, die Formlosigkeit und Fragilität einem strengen, bisweilen sequenzierten Umriss entgegensetzen und an Wand und Boden verankert sind, kommen dabei sowohl im Innen- wie auch im Außenraum vor: Bei Marian Goodman 2017, in der Biennale von Venedig 2019 und nun in der Wiener Secession (Kuratorin: Jeanette Pacher), wo sie neben den beiden titelgebenden Objekten „Breath Holding Spell“, neben „Deep Furrow“ und der Fotoarbeit „The Pincher“ die größte Werkgruppe ausmachen.

Essenzielle Kriterien des „Dwindlers“ sind seine Rekontextualisierbarkeit und seine Reproduzierbarkeit, für die die Frage nach einem etwaigen Original von vorherein obsolet ist: Wie sollte man ein solches denn auch erkennen, wenn Ähnlichkeit in einer Differenz begründet ist? Derrida nennt es Iterabilität, wenn er Veränderungen in oder durch Wiederholung in verschiedenen Kontexten und Prozessen von Bedeutungsproduktion nachgeht.(1) Baghramian denkt diese Differenzen vor allem skulptural, nutzt aber auch Mittel der Versprachlichung neben Funktionen von Zeit und Raum.

Nairy Baghramian, Breath Holding Spell, 2021, Ausstellungsansicht Secession 2021
Foto: Werner Kaligofsky, Bildrecht, Secession 2021

Ortsbezogenheit ist wichtig, dennoch nicht im „klassischen“ Sinn. Denn folgt man Baghramians Aussagen anlässlich der Pressekonferenz in der Secession, ist es nicht das Kunstwerk, das mit dem Ort eine Symbiose eingeht, sondern dieser wird zum Akteur einer skulptural konzipierten Erzählung. Die Secession – immerhin eine der Geburtsstunden des White Cube –, so die Künstlerin, wäre ein aktives Organ wie die Lunge, die Raum einnimmt und wieder abgibt. Weitere respiratorische Hinweise gibt Baghramian mit dem Titel der Ausstellung „Breath Holding Spell“. So heißen auch zwei Objekte, eines außen an der Rückseite des Gebäudes neben dem Hintereingang, eines im Innenraum montiert. Dieses ist weiß und wirkt aufgebläht, gleichzeitig minimalistisch und ist wie alle Objekte mit der Wand verbunden. Es zeugt von Präsenz, jedoch kann der angesprochene Wutanfall mit angehaltenem Atem kaum länger als eine Minute dauern, ohne letal zu sein. Ein Handelnder ist auch der „Dwindler“, der zwischen Sichtbar- und Unsichtbarkeit in seinen röhrenartigen Rinnen, die in einer Richtung etwas transportieren oder leiten könnten, einen wichtigen Beitrag zur Systemerhaltung eines zentralen Organs leistet. Hier zeigen sich auch seine ersten anthropomorphen Eigenschaften. Im Raum zieht er Achsen und Spuren, die jedoch bisweilen unterbrochen sind, als würde der Atem stocken und das Organ als Referent kurzgeschlossen sein, trotzdem die Verankerung andauernde Stabilität gewährt.

Der Raum ist minimalistisch und ästhetisch in Besitz genommen, der „Dwindler“ darin dominant und zurückgenommen zugleich. Die Farben der durchaus malerisch wirkenden Oberflächen aus Glas scheinen wie in einer trägen Bewegung zu verfließen. Mechanisch-technoid und starr hingegen sind die Verankerungen an Boden und Wand. Die „Dwindler“ in der Secession sind – abgesehen von den eben erwähnten Verankerungen – jeweils dreiteilig: das Glas in zwei Hälften, die es umfassenden Metallschlingen sowie die markanten hellen Klumpen aus Epoxiharz, die die Skulpturen wie Hände umfangen. In regelmäßigen Abständen angebracht scheinen sie den Zusammenhalt der Teile zu forcieren. Der „Dwindler“ wirkt bisweilen verspielt, sogar informell, was zur Ansicht verleiten könnte, dass es nicht letztgültige Klarheit ist, die er anstrebt, wäre da nicht seine fast monumental wirkende Gesamterscheinung, die immer wieder anthropomorphe Züge anklingen lässt und auf einen Platz im System verweist. Der Werktitel lässt uns diesbezüglich schon mit der Übersetzung ins Deutsche als „Schwinder“ eher ratlos zurück: offensichtlich kein Angebot zu Kommunikation. Mehr Klarheit bringen jedoch die Untertitel der mit verschiedenen Farben im Glas ausgestatteten Objekte, die etwa „Prone_curve“, „Prone_down“, „Prone_up“, „Languor“, „Gush out“ oder „Drizzle“ heißen und über Bewegung, Ausrichtung, Lage oder Geschwindigkeit des „Schwindens“ Auskunft geben. Deutlich sind sie Teile eines Teams mit Bezugssetzung auf ein größeres Ganzes. Ihre Versprachlichung ist von semantischer Dichte und scheint die Betrachter*innen frei nach Duchamp in mehr verbale Bereiche lenken zu wollen, um dennoch ganz in der Skulptur zu bleiben.

Nairy Baghramian, Breath Holding Spell, 2021, Ausstellungsansicht Secession 2021
Foto: Werner Kaligofsky, Bildrecht, Secession 2021

Der „Dwindler“ deutet Bewegung an und unterschlägt sie, wenn er bildhaft an der Wand hängt. Er macht große Bewegungen von der Wand in den Raum und kleinere im Detail und verbindet bisweilen Mechanisches mit Rhythmischem. Deutlicher tritt diese Verbindung allerdings in „Deep Furrows“ anthropomorph wirkenden Formen in Erscheinung, die in ihrer wie automatisierten Bewegungsabfolge an Nijinskys Interpretation von „Le Sacre du Printemps“ erinnern. Wie verhält sich der „Dwindler“ zum „Pincher“, der einzigen fotografischen Arbeit in der Ausstellung, die aus mehreren dunklen, wie glänzende Steine anmutenden Objekten unbekannter Größe besteht? Sie sind so angeordnet, als würden sie ein Werkzeug ergeben, wie der Pressetext mit der Übersetzung in „Zange“ suggeriert. Hier finden wir eine interessante Verbindung von Werkzeug und Sprache, wie es etwa die Anthropologie kennt. Als Dieb und Pincher (im Sinne von Schmarotzer oder Geizhals) sah sich Jean Tinguely, wenn er seine Skulpturen aus quasi archäologischen Fundstücken aus seiner Umgebung schuf, um damit auch Autorschaft zu hinterfragen. In der „Lunge“ Baghramians ist Autorschaft allerdings nicht wegzudenken.

Der „Pincher“ trägt in sich ein Moment der Duchampschen Verzögerung, einen Aufschub, der vor letztgültigen Deutungen warnt. Duchamp würde uns auch der lästigen Frage nach dem Funktionalen und Dysfunktionalen entheben. Der „Dwindler“ könnte dann etwa die Verzögerung einer Art von Korridoren, von kühnen Konstruktionen wie etwa einem Pont Transporteur sein, der die Moderne so faszinierte, um schließlich nach innen in die Lunge abzuwandern. Als Objekt von „ambivalenter Abstraktion“ (Nairy Baghramian) lebt er von Differenz im Sinne von Iterabilität mit dem Zugewinn von semantischer Offenheit..

  1. Vgl. Hilmar Schäfer, Praxis als Wiederholung. Das Denken der Iterabilität und seine Konsequenzen für die Methodologie praxeologischer Forschung, S.141:
    https://www.researchgate.net/publication/308141415_Praxis_als_Wiederholung_Das_Denken_der_Iterabilitat_und_seine_Konsequenzen_fur_die_Methodologie_praxeologischer_Forschung (Zugriff: 1.2.2022)

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