Ein scharlachroter Mantel

John Singer Sargents Porträt von Samuel Jean Pozzi 

Alle Abbildungen stammen aus dem Buch Julian Barnes, Der Mann im roten Rock, deutsche Ausgabe: Kiepenheuer&Witsch, Köln 2021. Fotos: Nora Schoeller. Wir sind sehr bemüht alle Copyrights einzuhalten, unser Informationsstand ist, dass diese Abbildungen im Blog Copyright-frei sind. Sollten Sie anderer Ansicht sein, bitte melden Sie sich.

Welches Lob auch immer man Julian Barnes neuestem Buch „The Man in the Red Coat“ („Der Mann im roten Rock“) beimisst, sein Blick auf das titelgebende Gemälde bleibt unbefriedigend. Es handelt sich dabei um John Singer Sargents 1881 entstandenes Porträt von Samuel Jean Pozzi, dem legendären Pariser Gynäkologen und Chirurgen, das Barnes ebenso als Teaser wie als Referenzpunkt dient, wenn kulturelle, medizinische und andere Verbindungen und Netzwerke an einer Vielzahl von Persönlichkeiten dargestellt werden. Man könnte den Essay auch als Kulturgeschichte der Belle Époque unter dem Gesichtspunkt der französisch-englischen Beziehungen lesen. Pozzi mit all seinen sozialen und beruflichen Ambitionen, seinen Liebschaften und Turbulenzen erfährt darin eine facettenreiche Verknüpfung, das Bild hingegen ist kaum mehr denn optisch präsent. Es handle, so Barnes, von einem Mantel. Allerdings ist dieser Teil eines gemalten Bildes. Von Mantel und Mantel im Bild soll im Folgenden die Rede sein, um beide zu ebenso sprechenden Akteuren werden zu lassen.

Im Übrigen hat uns Barnes verschwiegen, dass Pozzi 1878 von Jules Bastien-Lepage für ein konventionelles Porträt im Anzug skizziert wurde. Welch ein Kontrast zum Porträt von Singer Sargent drei Jahre später! Singer Sargent war 1881 25, Pozzi 35 Jahre alt, seit 1877 zwar bereits Professor an der Universität und als Chirurg tätig, jedoch sollte sich seine gynäkologische Karriere erst in den folgenden Jahren entwickeln. 1879 hatte er geheiratet und war 1880 mit seiner Frau Thérèse in eine Wohnung an der Place Vendôme eingezogen. Hier war er zu Hause – das Bild wird traditionell als „Dr. Pozzi at Home“ geführt –, hatte hier seine Privatpraxis und hier wurde angeblich auch das Porträt gemalt. Waren die Lichtverhältnisse so ideal, dass Singer Sargent auf sein von Pozzi als zu schäbig abqualifiziertes Atelier tatsächlich verzichten konnte? Barnes spricht von Sitzungen in den späten Vormittagsstunden. Künstler und Modell aßen danach zu Mittag, und Madame Pozzi soll über den Appetit des Künstlers gestaunt haben. Von der Wohnung wissen wir, dass ihr Interior Design gemäß dem Geschmack der Zeit von Rot geprägt war. (1) Ob sich in den Räumlichkeiten tatsächlich ein roter samtener Vorhang – wie im Bild dargestellt – befunden hat, der Assoziationen mit Adels- oder Herrscherporträts vergangener Jahrhunderte aufkommen lässt? Pozzi hat durchaus in diesen Kreisen verkehrt, war aber ebenso Künstlern und Literaten zugetan. Den jungen Singer Sargent, der 1874 nach Paris gekommen war und bei dem bekannten Porträtisten Carolus-Duran lernte, hat er gefördert, indem er gemeinsam mit Carolus-Duran Singer Sargents Mitgliedsbeiträge für die Künstlervereinigung Le Mirlitons beglich. Später sollte Pozzi noch weitere Werke des Künstlers erwerben. (2)

Es war das erste ganzfigürliche Männerporträt des Künstlers, und schon durch die Wahl dieses Typus schließt Singer Sargent an die Tradition des Staatsporträts an. Kennzeichnend dafür sind lebens- oder überlebensgroße Darstellungen mit kostbaren Roben und Insignien der Macht. Pose und Ponderation sprechen von Bedeutung und Würde, durch Säulen und Samtvorhänge unterstrichen. Singer Sargent nimmt dementsprechende ikonographische Bezüge auf, jedoch nicht in dem Ausmaß, wie es die Literatur zu dem Werk suggeriert. Da werden Philippe de Champaignes „Richelieu“ ebenso wie prominente ganzfigürliche Porträts – zumeist von Kardinälen – von Antonius van Dyck oder Diego Velázques als Vorlagen zitiert. (3) Auf der Homepage des Armand Hammer Museum of Art in Los Angeles, wo sich das Bild heute befindet, wird eine Beeinflussung von Rembrandts „Juno“ behauptet. (4) Diese Vergleiche sind ebenso zutreffend, weil Singer Sargent all die erwähnten Bilder mit großer Wahrscheinlichkeit in Original oder Abbildung gekannt hat, wie sie wenig weiterführende Erkenntnis erlauben. Der junge Maler wollte sich doch weniger mit der Geschichte als mit den Zeitgenossen, mit James McNeill Whistler, Giovanni Boldini, den Präraffaeliten oder auch seinem Lehrer Carolus-Duran messen, mit denen er in Ausstellungen und für Aufträge konkurrieren musste. Gezielt schickte Singer Sargent seit 1877 seine Werke zum Salon de Paris, wo er erste Erfolge verzeichnen kann. Gewiss wollte Singer Sargent modern sein und auffallen, um sich rasch eine Position als gesuchter Porträtist zu sichern.

Dazu trägt der rote Mantel wesentlich bei. Rote Kleidung ist in der Zeit der Entstehung des Bildes weder außergewöhnlich noch tabu, und man braucht keineswegs den Vergleich mit einem Kardinalsmantel bemühen, um Rot zu legitimieren. Schließlich ist die Farbe durch Denis Diderots scharlachroten Hausrock auch literarisch verbürgt. Vom Quattrocento, von Cosimo il Vecchio bis später zu Dracula bietet die Kunstgeschichte eine Vielzahl männlicher roter Mäntel. Auch Pozzi wird bei späteren Amtshandlungen einen roten Talar tragen. Gerne ist auch der seit dem 18. Jahrhundert beliebte Banyan, ein Haus- oder Morgenmantel, auch als „robe de chambre“, als Dressing Gown oder für Frauen als Tea Gown bekannt, rot. Man trug ihn ursprünglich mit einer Art von Turban anstelle der Perücke. In solchen Kleidungsstücken lassen sich seit dem 18. Jahrhundert hochgestellte Persönlichkeiten porträtieren und dies durchaus unter Beibehaltung von gewichtigen Bildräumen und Attributen, um mit Bescheidenheit, Häuslichkeit und Zurückgezogenheit das eigentliche Ansinnen der Repräsentation zu unterlaufen und eine private, inoffizielle Seite der Dargestellten in den Vordergrund zu spielen. Der Dressing Gown erlebte in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts einen Aufschwung, und es finden sich zahlreiche Beispiele mit exakt denselben Kordeln, ebensolchen Schließen und Manschetten, wie sie Pozzis Gown aufweist.

Ein roter Dressing Gown ist also durchaus nichts Außergewöhnliches. Mäntel im Sinne von Roben können majestätisch sein, der Dressing Gown ist es meistens nicht, wird aber nun durch den malerischen Akt dazu erhöht. Dazu verhilft das Setting des Bildes, die Farbgebung und die gewählte Pose. Barnes hat Recht, wenn er von einem Mantel spricht, wozu auch der an eine Art von Pelerine erinnernde Kragen beiträgt, der den für den Dressing Gown üblichen Schalkragen ersetzt. Einen Dressing Gown wählt man aus drei Gründen: Wärme, Häuslichkeit oder Mode. Unser Bild setzt bei der Mode an, denn wenngleich sich alles „at home“ abspielt, weist wenig auf idealisierte Häuslichkeit hin. Es ist, wie Barnes sagt, alles „höchst theatralisch inszeniert“. Woher kommt Pozzi? Aus dem Schlafzimmer? Zu welcher Uhrzeit? Er trägt ein weißes Unterhemd mit Spitzen, das eher als Nachtkleidung denn als Tageshemd zu verstehen ist, auch wenn Barnes das ausschließt. Die Rüschen am Ärmel finden sich tatsächlich ähnlich im Porträt von Carolus-Duran, das Singer Sargent 1879 von seinem Lehrer schuf (Clark Institute, Williamstown). Pozzis Auftritt im Bild deutet eher auf einen Darsteller von Königsdramen als auf einen seriösen Arzt am Morgen, als spiele er den „Valois der Gynäkologie“, wie Robert des Montesquiou, Schriftsteller, Dandy und Freund von Pozzi, der selbst von Boldini und Whistler porträtiert wurde, dessen Erscheinung abfällig beurteilte. Realität oder Verkleidung? Auch Barnes attestiert Pose und malerischem Stil „etwas Großspuriges“, ein Eindruck, der vom Maler durchaus intendiert war. Denn wie schon Singer Sargents erster Biograph Stanley Olson aufmerksam machte, lassen sich dessen Sujets nicht mit Präzision oder historischer Genauigkeit fassen. In unserem Fall ist es der Mantel, der sich der Realität entzieht. Ob es ihn wirklich gegeben hat? Vermutlich schon, wenngleich seine Materialität und seine Struktur ganz in Malerei aufgehen. Man sieht schließlich keine Naht, und es gibt keinen Hinweis auf Stoff oder etwaige Musterung: Alles ist Farbe und Licht. Zeitgenossen berichten von Singer Sargent, dass dem Maler weniger das Gesicht des Porträtierten wichtig war als sein Interesse „in the appurtenances of the sitters and in the appointments of their rooms“ (5), was sein Publikum aber nicht gestört haben soll. 1894 soll der Künstler zu W. Graham Robertson gesagt haben: „The coat is the picture“ als dieser sich beklagte, dass er einen schweren Chesterfieldmantel bei den Porträtsitzungen tragen musste. Barnes zitiert es so: „Es geht hier nicht um Sie, es geht um den Mantel“. 

In wenigen Vormittagssitzungen bringt kein Maler ein gewichtiges Bild zustande, schon gar nicht eines dieser Ausmaße. Fotografien als Hilfsmittel waren durchaus üblich, und es spricht Vieles dafür, dass Singer Sargent den Kopf nach einer Fotografie gemacht hat, zumal ihm diesbezüglich weniger malerische Ambitionen nachgesagt werden. Vorlage könnte ein Porträt aus dem Atelier Nadar (Musée Carnavalet, Paris) (6) sein, das Pozzi auch altersmäßig entspricht. Im Vergleich zur Fotografie hat der Maler den an sich länglichen Kopf etwas abgerundet und leicht die Proportionen verändert. Wie ein Versatzstück sitzt er auf dem Hals, als wäre der Kragen, den Männer im Anzug zu dieser Zeit allgemein tragen – wie auch im erwähnten Porträt aus dem Atelier Nadar – noch vorhanden. Er ist eines der wenigen plastischen Elemente im Bild und erinnert an den Hals einer Porzellanpuppe. Generell gestaltet Singer Sargent nach der Methode seines Lehrers mit direktem Farbauftrag mit wenig Vorzeichnung. Kurz davor hat er mit „Fumée d’Ambre Gris“ ein Bild in Grautönen geschaffen, dessen Skizze sich in Pozzis Besitz befand (heute Isabella Stewart Gardner Museum, Boston). Für diese Art von Porträt war Whistler tonangebend, der seine Harmonien und Symphonien, die oft als exzentrisch kritisiert wurden, als Poesie der Farben verstand und rein visuell beurteilt wissen wollte. „Beim Farbenarrangement muss der Künstler die Blume als die Tonart betrachten, in der er komponiert, nicht als das trockene Modell“. (7) 

Singer Sargent hat die Tonarten des Rot gut beherrscht. Arme und Hände bleiben innerhalb der streng umrissenen Figur. Pozzis rechter Fuß im eleganten Brokatpantoffel scheint sich entlang des Vorhangs zu bewegen, was für die topographischen Angaben des Bildraums wichtig ist, der durch den Vorhang und den leicht gekippten Boden minimal definiert ist. Anders als im Porträt von Carolus-Duran ist ein Raum gegeben, den der Künstler wie im traditionellen Herrschaftsporträt zur Steigerung von Dramatik einsetzt. Ohne Blickkontakt mit dem Betrachter – wie im Porträt seines Lehrers – schaut Pozzi weltentrückt zur Seite. Die detaillierten Angaben zu Kopf und Händen kontrastieren die „reine“ Malerei des Mantels.

Der rechte Unterarm bringt eine für die Komposition wichtige Diagonale ins Spiel, der linke Arm folgt dem Körper. Die rechte Hand ist nahe am Herz, die linke variiert das Motiv des Abstützens auf der Hüfte. Die Finger sind elegant und gelängt und vollführen spielerische vermeintlich nervöse Bewegungen ohne Bedeutung, wie man sie von Frauenporträts kennt, in denen in Ermangelung an männlichen Attributen nach Schleier oder Falte gegriffen wird. Die Finger der rechten Hand scheinen mit dem Verschluss zu nesteln, die der linken sind in der Kordel verschränkt. Inmitten der Ewigkeit der roten Farbe scheinen sie eingefroren, als handle es sich um Fotografie. Bereits im 1879 entstandenen Porträt seines Lehrers lenkt Singer Sargent die Aufmerksamkeit auf Hände und Finger. Auch diesbezüglich konnte er sich in der Malerei seit dem Quattrocento Anleihen holen, obwohl die exaltierteste Handhaltung bei seinem Zeitgenossen Dante Gabriel Rossetti zu finden ist. 

Pozzi war eine stattliche Erscheinung und sehr groß. Im Vergleich des Gemäldes mit einer späteren Fotografie von Nadar (8) fällt überdies ein anderes Verhältnis von Kopf und Rumpf auf: Im Gemälde ist der Kopf im Verhältnis zu Händen und Körper kleiner, auch wenn man eine leichte Untersicht in Betracht zieht. Auf der Fotografie wirkt Pozzi – nun im Anzug – weltgewandt und präsent. In der raffinierten Aufnahme von Nadar, die die seitliche Kante des Gehrocks so setzt, als wäre sie tatsächlich die Mitte, spielt der Fotograf mit Anzug und Eros (Anne Hollander), demgegenüber im Bild der Griff zum Herzen von verhaltener Erotik zeugt. Auch diesbezüglich ist viel spekuliert und dem roten Mantel untergeschoben worden. 

Resümierend könnte auf de Montesquiou („Valois der Gynäkologie“) mit Oscar Wilde geantwortet werden, welcher meinte, dass, wo Schönheit in der Kleidung ist, keine Verkleidung besteht. 1885 hat sich Wilde zur Beziehung von Kleidung und Kunst dahingehend geäußert, dass sie sich in der Schönheit, nicht in der Wahrheit verlieren sollte.(9) 

  1. Wenn nicht anders erwähnt, folgt der Text dem Kapitel „Dr. Pozzi at Home” aus dem Buch von Caroline de Costa und Francesca Miller, The Diva and Doctor God. Letters from Sarah Bernhardt to Doctor Samuel Pozzi. (ohne Angabe) 2011, S.109-124. Auch Julian Barnes (Der Mann im roten Rock, deutsche Ausgabe: Kiepenheuer&Witsch, Köln 2021) scheint sich darauf zu stützen.

  2. Vgl. auch den ausführlichen Wikipediaeintrag von „Dr. Pozzi at Home“ https://de.wikipedia.org/wiki/Dr._Pozzi_at_Home( Zugriff: 5.10.2021):

  3. Aufgelistet im Wikipediaeintrag.

  4. https://hammer.ucla.edu/collections/armand-hammer-collection, Zugriff: 5.10.2021

  5. Beschreibung eines Zeitgenossen (Osbert Sitwell), zit. nach einer Ausstellungsbesprechung von John Russell, The New York Times, 19.10.1986, S. 33.

  6. Portrait de Samuel Jean Pozzi (1846-1918), Chirurgien. Carte de visite (recto). Photographie de l'Atelier Nadar. Tirage sur Papier Albuminé, 1860-1890. Paris, musée Carnavalet Stockfotografie - Alamy - https://www.alamy.de/portrat-von-samuel-jean-pozzi-1846-1918-chirurg-portrait-de-samuel-jean-pozzi-1846-1918-chirurgien-carte-de-visite-recto-photographie-de-latelier-nadar-tirage-sur-papier-albumin-1860-1890-paris-muse-carnavalet-image349622134.html

  7. James McNeill Whistler, Der rote Lappen, in: ders., Die artige Kunst sich Feinde zu machen, Leipzig 1984, S. 89.

  8. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pozzi,_Samuel_-_Par_Nadar.jpg

  9. Oscar Wilde, Die Beziehung zwischen Kleidung und Kunst, in Whistler, wie Anm.7, S. 233 ff., bes. S. 235.

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Der „Dwindler“ und sein Team

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Dornröschen erwacht und geht schlafen