Fluxus in Camouflage

Zum „Pierrot lunaire“ von Marlene Monteiro Freitas bei den Wiener Festwochen

Arnold Schönberg, Pierrot lunaire, Wiener Festwochen 2021
Foto: © Nurith Wagner-Strauss, Wiener Festwochen

Fluxus wird heute bisweilen als weitgefasste künstlerische Aktionskunst begriffen, die den historischen Rahmen dieser Bewegung immer mehr in den Hintergrund rückt. Insofern überrascht es, dass Marlene Monteiro Freitas quasi „klassischen“ Fluxus als eine Art von Rahmen- zur Haupthandlung in ihren „Pierrot lunaire“ einbaut, den sie im Juni 2021 für die Wiener Festwochen neu choreographierte. Allerdings sucht man in den Programmen vergebens auf einen entsprechenden Hinweis ihrer Vorgangsweise.(1) Freitas, „eine Choreografin von überwältigenden Bildern und faszinierenden Details“, vereinnahme, so der Pressetext, „das ikonische Werk der musikalischen Moderne für ihre einzigartigen visuellen Abenteuer“. Wesentliche Elemente sind dabei „Kostüm- und Bühnenbild, Musik und Choreografie“ (Programmheft), wenn Schönbergs um 1912 entstandenes Melodram – eine Vertonung von 21 Gedichten von Albert Giraud – nun gemeinsam mit dem Dirigenten und Schönberg-Experten Ingo Metzmacher, dem Klangforum und der experimentellen Vokalistin Sofia Jernberg zur Aufführung kommt.

Fluxus als neoavantgardistische Bewegung der frühen 1960er-Jahre wollte sich vom historischen Ballast befreien und wendete sich gegen die Hochkunst, gegen ein künstlerisch gestaltetes „Endprodukt“ – wie George Brecht einmal sagte, Picasso male ein Bild, und er lege ein Buch von hier nach da. In den Festivals und Konzerten, wie sie 1962 in Wiesbaden unter dem Motto der „neuesten“ Musik stattfanden, treffen choreographische Elemente auf akustische und performative. Vorgegeben sind Partituren oder Handlungsanweisungen einzelner Autor*innen, die aber auch von anderen bzw. im Kollektiv aufgeführt werden konnten. Die Protagonist*innen der 1960er-Jahre wie Fluxus-Impresario George Maciunas, Yoko Ono, Nam June Paik, Alison Knowles oder Dick Higgins vertreten eine Haltung zur Musik, die man auch als Anti-Musik bezeichnen könnte und die ein Szenario aus Geräuschen, Requisiten und Slapstick-Elementen bündelt. Fluxuskonzerte fanden auf der Bühne – die Männer im Anzug – vor Zuschauern statt und waren von kurzen Einlagen bestimmt. Fluxus verneint eine literarisch aufgeladene Inhaltlichkeit, und indem die Partituren und Konzerte konstruiert-konzeptuell, konkret, aber nüchtern real und verglichen mit traditioneller Musik „leer“ ist, scheinen sie für Freitas eine ideale Vorgabe für ein erweiterndes Szenario abgegeben zu haben.

Arnold Schönberg, Pierrot lunaire, Wiener Festwochen 2021
Foto: © Nurith Wagner-Strauss, Wiener Festwochen

Die Mitglieder des Klangforums tragen blaue verkehrt herum getragene Hemden und Hosen und erinnern schon in ihrem Aufzug an die Fluxuskonzerte, die choreographisch in Sequenzen von an- und abtretenden Performern, die untereinander agierten, bestimmt waren. Als Bühne dient ein von allen Seiten mit Sitzreihen umgebendes Podest. Bereits der Beginn ist ein Zitat, wenn auf einem Metallwagen eine Klaviatur antransportiert und in den bereitstehenden Bösendorferflügel versenkt wird. Das Klavier ist oftmals Zentrum in Fluxuskonzerten, wenn – wie auch in Wiesbaden – verschiedene Klavierbearbeitungen durchgeführt werden, die durchaus auch destruktive Elemente beinhalten. Viele der Aufführenden in Wiesbaden hatten den Kompositionskurs bei John Cage 1958/59 in der New Yorker New School for Social Research besucht und waren auf der Suche nach einer intermediären Form, die neben einer Erneuerung traditioneller Musik, performativ und visuell sein wollte. Zentrale Elemente sind auch Cello oder Geige. Musikinstrumente waren in viele Fluxusaufführungen einbezogen, ohne dass diese in traditioneller Weise erklungen wären, hingegen fanden Handlungen um sie herum statt, wie dies ähnlich in die Choreographie Freitas eingeflossen ist. Freitas ergänzt sie mit banalen Handgriffen, einfachen Handlungen oder minimalen Gesten ohne inhaltliche Gebundenheit, wie sie ebenso im Fluxus vorkommen und auch daran erinnern, dass Fluxus vor allem ein soziales Experiment sein sollte. Streng grenzt er sich vom dramatischeren und oft partizipativ angelegten Happening ab, beruft sich hingegen auf Dada, auf Vaudeville oder auf japanische Haikus.

„Allerlei Faxen auf der Bühne“ (Andrea Heinz): In der Kritik der Aufführung wurde die Rahmenhandlung verschieden aufgenommen und daran besonders das Komische oder Ironische hervorgehoben. Andrea Heinz spricht in ihrer Besprechung (Nachtkritik) von einer „Probensituation“, wenn immer wieder Anweisungen oder Kommentare vom Band kommen: „Dazwischen wird gegessen oder Zähne geputzt, und die Musiker*innen machen allerlei Faxen, auch wenn sie dabei nicht lachen: Sie verwandeln ihren Geigenbogen in eine Angel, sie schielen ausgiebig, rollen auf ihren beweglichen Hockern herum oder formieren sich darauf zu einer rollenden Parade, ins Publikum winkend. Das hat clowneske, manchmal, weiß behandschuht, auch pantomimische Elemente.“ – So könnten auch Fluxuskonzerte beschrieben sein. 

Arnold Schönberg, Pierrot lunaire, Wiener Festwochen 2021
Foto: © Nurith Wagner-Strauss, Wiener Festwochen

Hat Fluxus keine Autorenrechte? Zumindest nicht für Freitas, wohingegen sich andere Gruppen seit Jahrzehnten um eine aktuelle Aufführungspraxis unter Einhaltung der Autorenrechte bemühen. Hier ist vor allem die Gruppe der Maulwerker zu erwähnen, die sich als „Vokalensemble, Musikperformer, Musiktheatermacher, Komponistenkollektiv“ definiert. Sie sind Spezialist*innen in den Schnittmengen von Musik und Theater, Musik und Sprache, in der Durchdringung von Musik und Raum, von Klang und Stille und haben ein großes Repertoire an Fluxuswerken.

Zweifelsohne hat Freitas eine außerordentliche Neuinterpretation des Werkes von Schönberg geschaffen. Sie hat jene Elemente, die sich dem Fluxus verdanken, auch wunderbar integriert, wie Helmut Ploebst im Standard (18.6.) schreibt: „Vor allem zur Begleitung der Darstellerinnen-Musiker des von Freitas perfekt instruierten Klangforums, die ihren Schönberg derart gekonnt aus dem Gleis springen lassen, dass einem die dabei entstehende Zerlegung ganz normal vorkommt.“ Er betont auch, dass, obwohl alles aus den Fugen gerät, doch die Form gewahrt bleibt: Das ist auch Fluxus.

Was hätten die Fluxuskünstler*innen zu Schönbergs „Pierrot lunaire“ gesagt? Auf Paiks „Klavier Intégral“, dem einzigen noch erhaltenen und bespielbaren Fluxusklavier aus der Zeit (heute mumok, Wien) findet sich ein Bild von Beethoven, der zentralen Gegenfigur im Fluxus. Aber Schönberg? Schließlich hatte Cage bei Schönberg studiert und Paik seine Abschlussarbeit über ihn verfasst (Ein erhaltenes Exemplar befindet sich im Archiv Sohm, Stuttgart.). Womöglich hätten sie sogar zugestimmt, den „Pierrot lunaire“ neu zu interpretieren, aber wenn: Dann auf keinen Fall anonym!

  1. Weder die Wiener Festwochen noch das Klangforum konnten mir diesbezüglich weiterführende Auskünfte geben. Dennoch Dank an Katharina Knessl und Matthias Kieber.

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