Für und wider die Konstellation

Zur Retrospektive von Friedl Dicker-Brandeis im Linzer Lentos

Friedl Dicker-Brandeis, Komposition mit Musikinstrumenten, um 1920
Kunstsammlung und Archiv, Universität für angewandte Kunst Wien
Foto: kunst-dokumentation.com, Manuel Carreon Lopez.

Eines der vier Paradigmen, auf denen Beatrice von Bismarck ihren Essay „Das Kuratorische“ aufbaut, ist das der Konstellation,(1) ein Begriff mit „starker, eindeutiger Semantik“, wenn er die Sternenbilder meint.(2) Walter Benjamin und Theodor W. Adorno haben den Begriff basierend auf ihren Neapolitaner Erfahrungen in den 1920er-Jahren zu einer Denkfigur gemacht, worauf auch von Bismarck Bezug nimmt und den Begriff in all seiner Dichte historisch aufrollt. Nach Benjamin verhalten sich „die Ideen zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen“, und er sagt erläuternd: „Die Ideen sind ewige Konstellationen und indem die Elemente als Punkte in derartigen Konstellationen erfasst werden, sind die Phänomene aufgeteilt und gerettet zugleich.“(3) Der Konstellation fehlt das argumentative Nacheinander, wenn sie disparate Elemente und entfremdete Dinge aufnimmt und Vorstellungen von stabileren Bedeutungsformationen zugunsten einer Dynamik von Verhältnissen hinter sich lässt.(4) Von Bismarck macht sie für das Kuratorische in den drei ineinander verschränkten Zugangsweisen von „epistemisch, ästhetisch und performativ“ produktiv.(5) Auch eine quasi „klassische“ Retrospektive kann einer konstellativen Dramaturgie folgen, ist es aber dann nicht, wenn Definitionsmächte und Hierarchien in allzu linear und chronologisch gedachten Festschreibungen erfolgen. Jede Ausstellung zeigt Exponate, aber auch sich selbst als Ausstellung, insofern Kriterien von Raumauffassung und Display, Anordnung und Präsentation von Werken gerade in Hinblick auf vielfältige Wechselbeziehungen eine maßgebliche Rolle spielen.


Inwieweit Konstellation und Retrospektive sich bedingen, sich aber auch widersprechen, zeigt die Ausstellung von Friedl Dicker-Brandeis im Lentos als Auftakt von zwei weiteren Ausstellungen, die die Universität für Angewandte Kunst und das Wien Museum 2022 veranstalten. Zeitlich sind wir in drei Jahrzehnten der Moderne, die als ebensowenig linear gelten kann wie die von Bismarcksche Konstellation. Nach dem Ersten Weltkrieg war sie in den diversen Gruppierungen aus Kubismus, Futurismus oder Expressionismus zunehmend international und pluralistisch geworden. Im Unterschied zu vielen Richtungen und Stilen davor wird sie nie abgeschlossen sein, sondern konstellative Gruppierungen und Allianzen ausbilden, die durchaus kontrovers ausfallen konnten, wenn etwa Dadaisten und Konstruktivisten in Weimar 1922 einen internationalen Kongress veranstalteten.(6) Dicker-Brandeis gehörte nicht der Generation der Pioniere an, sondern deren erster Schüler*innengeneration, die als Studierende erstmals von institutionellen Ausbildungen profitieren konnten.

Ausstellungsansicht Friedl Dicker-Brandeis, 2022, Lentos Kunstmuseum Linz
Foto: Reinhard Haider.

Der künstlerische Werdegang von Friedl Dicker-Brandeis (1989 -1944) beginnt 1914 in Wien, 1915 ist sie an der Kunstgewerbeschule bei Franz Cizek, 1916 tritt sie in die Ittenschule ein, um mit ihm und anderen Studierenden 1919 ans Bauhaus nach Weimar zu wechseln. Sie hatte sich 1916 für die private Kunstschule entschieden, die Johannes Itten von 1916 bis 1919 in Wien führte, aber bereits davor die Methode von Cizek kennengelernt. Ihr Ausgangspunkt war also durch zwei Persönlichkeiten gekennzeichnet, die sich für das Neue und Moderne einsetzten. Tatsächlich standen sie sich auch nicht ganz fern, war doch Itten sogar als Lehrer an die Kunstgewerbeschule eingeladen worden, um sich dann aber für Gropius und das „junge“ Bauhaus zu entscheiden.(7) Für Cizek sollte schließlich das Ende der Donaumonarchie neue Möglichkeiten bieten und die produktiven Jahre des Wiener Kinetismus einleiten.

Friedl Dicker-Brandeis hat der Nachwelt ein dem Anschein nach wenig einheitliches und unabgeschlossenes Werk hinterlassen, das aus der Sicht der überlieferten Arbeiten aus Diskontinuitäten, aus Abschnitten, sogar Fragmenten besteht. Sie war künstlerisch und politisch tätig und wirkte an vielen Orten und in vielen Medien, bei den wechselnde Auftraggeber und in den 1920er-Jahren die Entwicklung vom Handwerk zur Industrie eine Rolle spielen. Die Retrospektive im Lentos geht streng chronologisch vor und trennt strikt nach Medien. Der große Ausstellungsraum des Hauses im Obergeschoß ist mit wenigen Wänden unterteilt, mit Vitrinen bestückt und enthält einen zentralen Videobereich. Die am Eingang startenden Besucher*innen nehmen ein Nacheinander von Werkabfolgen parallel zur Abfolge des Raums wahr und finden in einem zweiten kleineren Raum die Kinderarbeiten aus dem KZ Theresienstadt vor, wo Dicker-Brandeis im Kinderheim L 410 einen Zeichenunterricht für Kinder eingerichtet hatte. Filmmaterial zu diesem Themenkomplex zeigt die Ausstellung allerdings im Hauptraum, womit ein Schwerpunkt gesetzt wird, der ohne Zweifel sehr wichtig ist, jedoch sollten wir die Künstlerin nicht ausschließlich aus der Perspektive ihres tragischen Endes und ihrer Ermordung in der Shoah sehen, zumal wenn wir etwas über sie und die Moderne wissen wollen, ist sie doch auch im Untertitel der Ausstellung als „Bauhaus-Schülerin“ und „Avantgarde-Malerin“ ausgewiesen.

1919 entschied sich Dicker-Brandeis abermals für Itten, als sie ihm mit über 20 Mitstudierenden ans neu gegründete Bauhaus folgte, wo sie mit der vielfältigen Situation der Moderne, ihren Medien und Ausrichtungen neu konfrontiert ist. Es entstehen bildnerische und plastische Werke, Theaterentwürfe und textile Arbeiten gemäß dem Angebot, das die Künstlerin am Bauhaus vorfand. Dennoch zeigt uns ihr ganzes Frühwerk der 1920er-Jahre hindurch auch, wie komplex sich die Avantgarden für eine junge Künstlerin dargestellt haben mussten und wie diese erprobt werden konnten. Es ist keine „einheitliche“ Linie auszumachen, wenn sie durchaus multiple Positionen einnimmt, die von den an Itten gemahnenden, expressionistisch-handwerklichen Kohlezeichnungen zu verschiedenen Auseinandersetzungen mit der abstrakten Moderne und Werken plastischer und textiler Medien reichen. Die Linzer Chronologie kann das Diskontinuierliche und Unabgeschlossene kaum überspielen, das besser mit Querverweisen zwischen Medien und Arbeitsphasen operiert hätte und so auch den Vorteil des relationalen und dynamischen Charakters der Konstellation hätte nützen können. Wie sehr dieser für die Moderne konstitutiv ist, zeigen etwa zwei wichtige Publikationen, Das „Buch der Künstler“ von Lajos Kassák und László Moholy-Nagy von 1922 sowie die „Ismen“ von Hans Arp und El LIssitzky von 1925, die sich um eine Darstellung der aktuellen Kunst in einem Netz an Strömungen und Gruppierungen bemühen und den bei Benjamin und Adorno sich gleichzeitig konstituierenden Denkbegriff bildlich zu erfassen suchen. Dass die Künstler dabei von verschiedenen Betrachterstandpunkten ausgehen bzw. diese jeweils integrieren, lässt sie quasi zu jenen Kurator*innen werden, die von Bismarck als wichtigen und integrativen Bestandteil der Konstellation einfordert, wenn sie den Wissenssoziologen Karl Mannheim zitiert, der sagt: „Die Dynamik und Beweglichkeit des Subjekts stehe mit derjeniger seiner Objekte in Wechselwirkung“.(8)

Ausstellungsansicht Friedl Dicker-Brandeis, 2022, Lentos Kunstmuseum Linz
Foto: Reinhard Haider.

Einen ähnlich beweglichen Blick muss auch Dicker-Brandeis entwickelt haben. Mit ihrem Wechsel nach Deutschland ist sie in internationalere Gefilde gekommen. Als Schülerin von Itten sah sie sich sicher auch den sich abzeichnenden Änderungen am Bauhaus gegenübergestellt, die schließlich zum Weggang Ittens führten. Die 1920er-Jahre suchten vor allem einen Zusammenschluss eines internationalen Konstruktivismus, der aber Utopie bleiben wird.(9) Vor dem Hintergrund einer generell überindividuellen Disposition der Moderne scheinen die Vergleiche, die die Ausstellung in Linz mit Werken von namhaften Künstler*innen der Moderne wie Marianne von Werefkin, Hans Arp, Oskar Kokoschka, Otto Dix, Tamara de Lempicka oder Oskar Schlemmer anstellt, jedoch kaum jene kuratorische Vorgangsweise zu treffen, die von Bismarck als Teil der Konstellation nennt: An einigen Punkten der Ausstellung finden sich Fototafeln, die den ausgestellten Werke von Dicker-Brandeis beigestellt werden und mit dem Mittel der Ähnlichkeit argumentieren. Derartige in der Kunstgeschichte bisweilen zum Zwecke historischer Ableitungen gebräuchliche Vergleiche gehen zugunsten des Ähnlichen auf Kosten der Differenz und sind als Festschreibung eine zu vermeidende Verdinglichung der Konstellation.(10) Die wenigsten der genannten Künstler*innen, die nun wie zusätzliche Akteur*innen in der Ausstellung auftreten, dürfte Dicker-Brandeis persönlich gekannt haben. Die meisten waren auch nicht ihre Generation, wie etwa Marianne von Werefkin, von der ein Landschaftsbild von 1917 mit einem vergleichbaren Motiv von Dicker-Brandeis von 1940 verglichen wird, 40 Jahre älter als Dicker-Brandeis war. Gemeinsam sind den beiden Künstler*innen allenfalls die prekären Lebensverhältnisse in ihren letzten Jahren. Sophie Taeuber-Arp, Sonia Delaunay oder Liubov Popova, die großen Pionierinnen der 1920er-Jahren, kommen in der Linzer Ausstellung nicht vor, wobei es gerade mit Taeuber-Arp, was Architektur, Theater oder textile Arbeiten betrifft, interessante Verbindungen zu zeigen gäbe. Welche Parallelen gibt es zu den gleichaltrigen Kolleginnen an der Kunstgewerbeschule bei Cizek, Erika Giovanna Klien, Elisabeth Karlinsky und My Ullmann, oder zu Toyen, der wichtigen tschechischen Surrealistin?

Ein weiterer Vergleich betrifft das Blatt „Form- und Tonstudien“, das in der Ausstellung mit 1919 datiert ist, aber wohl tatsächlich erst in den Jahren von 1920 bis 1923 als Schülerarbeit am Bauhaus entstanden ist. Es wird einem Linolschnitt von Moholy-Nagy von 1922 gegenübergestellt und soll wohl beweisen, dass das Werk von Dicker-Brandeis davor entstanden ist. Tatsächlich könnte man für das flächig mit Kreis und anderen Elementen angelegte Studienblatt unzählige „ähnliche“ Werke der abstrakten europäischen Moderne als Vergleich heranziehen. Moholy-Nagy stand 1922 am Beginn seiner Karriere, war bekanntermaßen der Nachfolger von Itten am Bauhaus 1923, wo er als „Ingenieur-Künstler“ Itten in Vielem entgegenstand. 1919 kommt er von Budapest nach Wien, das er als eine ihm wenig interessante „herabgekommene Kriegsinvalidenstadt“(11) zugunsten von Berlin bald wieder verlässt. Dicker-Brandeis kannte vermutlich das von ihm und Kassák publizierte „Buch der Künstler“, in dem Kassák den Bildaufbau als „Bildarchitektur“ fordert, der jedoch für Dickers Blatt keinerlei Rolle spielt. Der Architektur wird sich Dicker-Brandeis in Kürze nicht in Graphik oder Malerei, sondern real zuwenden.

Die hier vorgenommene kuratorische Einordnung der Künstlerin in die Moderne erfahren die Besucher*innen als integralen Teil der Präsentation und Teil des Displays, das vor allem durch die Farbfelder der Wände definiert wird. Objektgruppen sind als solche definiert und geben den Eindruck, als seien sie abgeschlossene Einheiten. Film- und Fotoarbeiten befinden sich außerhalb des Farbraums, der somit der Malerei und den Sockeln mit den Möbeln vorbehalten ist. Kennt man die Diskussionen um die Farbraumvorstellungen der 1920er-Jahre rund um das Bauhaus,(12) die als Bekenntnis zur Moderne entstanden sind und später auch von Dicker-Brandeis und Franz Singer in ihren architektonischen Arbeiten weiterentwickelt werden, kann man das Display gerade im Kontext einer sich am Bauhaus formierenden Künstlerin nicht anders denn als den 1920er-Jahren nachempfunden ansehen. Es variiert beliebige Farben in den jeweils chronologisch definierten Abschnitten und scheint dekorativ eingesetzt. Raumzeitlich gesehen nehmen die Farbflächen eine gliedernde, aber keine inhaltliche Unterstützung des kuratorischen Konzeptes ein.

Was kann die Konstellation der Retrospektive bieten? Es ist das Zugleich disparater Elemente und eine daraus entstehende Dynamik, die von Bismarck dann im Paradigma der Transposition weiterverfolgt. Im Konstellativen können Zusammenhänge aufgesplittert und wieder zusammengesetzt werden, so dass immer wieder etwas Neues und Gegenwärtiges entstehen kann: Alles in allem mag man sich daran erinnern, dass sich der Begriff bei Benjamin aus dem der Porosität entwickelt hat, der seinen Ursprung im porösen Tuffgestein in Neapel hat und aus seiner löchrigen Durchlässigkeit auf andere kulturelle Schauplätze übertragen wurde.(13)

  1. Beatrice von Bismarck, Das Kuratorische, Leipzig 2021, S. 99 ff.

  2. Martin Mittelmeier, Adorno in Neapel, München 2015, S. 57.

  3. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 1/1, Frankfurt 1978, S. 214 und S. 215, siehe auch Nicolas Pethes, Konstellationen. Erinnerung als Kontinuitätsunterbrechung in Walter Benjamins Theorie von Gedächtnis, Kultur und Geschichte, S. 5, der diese und weitere Zitate Benjamins zur Konstellation anführt:
    https://idsl1.phil-fak.uni-koeln.de/fileadmin/IDSLI/dozentenseiten/Pethes/Pethes_Benjamin_Konstellationen.pdf (Zugriff: 1.Mai 2022).

  4. Vgl. Mittelmeier S. 69, von Bismarck S. 99.

  5. von Bismarck S. 109.

  6. Vgl. Gerda Wendermann, Der Internationale Kongress der Konstruktivisten und Dadaisten in Weimar im September 1922:
    https://de.scribd.com/document/166446530/Wendermann-Konstruktivisten-Dadisten-Internac-Kongress-1922 (Zugriff 1. Mai 2022).

  7. Vgl. Marietta Mautner Markhof, Franz Cizek und die „moderne Kunst“ – Ornamentale Formenlehre an der Kunstgewerbeschule in Wien, in: Franz Cizek, Pionier der Kunsterziehung (1865.1946), Wien 1985, S. 15 ff.

  8. von Bismarck S. 126 f.

  9. Vgl. Wendemann S. 4 ff.

  10. von Bismarck S. 173.

  11. Siehe Eva Körner, „Nachwort“ zum Reprint „Buch neuer Künstler“, Budapest 1977, ohne Seiten, besonders Anmerkung 4.

  12. Siehe Wendemann, S. 19 ff.

  13. Mittelmeier, S. 42 ff. und S. 57.

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Der Deutsche und der Spanische Pavillon, Biennale Venedig 2022

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