Geteilte Perspektiven auf Friedl Dicker-Brandeis

Ausstellungsansicht Atelier Bauhaus, Wien. Friedl Dicker und Franz Singer, Wien Museum MUSA 2022/23
Foto: TimTom

Susanne Neuburger im Gespräch mit Andreas Nierhaus, Wien 27.06.2023

Susanne Neuburger: Drei Ausstellungen in Linz und Wien mit drei Publikationen haben 1922/23 aus unterschiedlichen Gesichtspunkten das Werk von Friedl Dicker-Brandeis neu untersucht und beleuchtet. Alle drei Ausstellungen haben mit einer großen Anzahl an Werken und Dokumenten die Künstlerin umfassender vorgestellt, als man sie bis dato kennenlernen konnte. In Linz ging es unter dem Motto „Bauhaus-Schülerin, Avantgarde-Malerin, Kunstpädagogin“ um eine Gesamtdarstellung, wobei ihrem malerischen Werk seit den 1930er Jahren viel Raum gegeben wurde. Die Universität für angewandte Kunst zeigte ihren Bestand unter dem Titel Friedl Dicker-Brandeis. Werkstätten bildender Kunst. Die Ausstellung, die Du mit Katharina Hövelmann und Georg Schrom kuratiert hast, widmete sich unter dem Titel Atelier Bauhaus, Wien. Friedl Dicker und Franz Singer der Gemeinschaftsarbeit von Dicker und Singer. Was war Euer Ansatz?

Andreas Nierhaus: Die Ausstellung im Wien Museum hat erstmals in diesem Umfang Dicker und Singer in ihrem gemeinsamen Atelier – das unter seinem Namen firmierte – in den Fokus gerückt. Uns ging es nicht darum, einzelne Persönlichkeiten hervorzuheben, sondern das Atelier als Ort der gemeinsamen künstlerischen Arbeit einer Gruppe begabter und engagierter junger Künstlerinnen und Künstler zu interpretieren. Erstmals bestand die Gelegenheit, bisher unbekannte Zeichnungen aus dem Bauhaus-Archiv mit den Objekten aus dem Archiv Georg Schrom gemeinsam zu präsentieren. Die Basis dafür waren die grundlegenden Forschungen von Katharina Hövelmann, die unzählige neue Aspekte zu Tage gefördert haben – sowohl in Hinblick auf den künstlerischen Werdegang von Dicker und Singer, als auch Details der Biografie, Netzwerke und vor allem viele bisher unbekannte Aufträge und Projekte. Die Ausstellung hat diese Forschungen anhand einer repräsentativen Auswahl von hochkarätigen Objekten einem breiten Publikum zugänglich gemacht, in der begleitenden Publikation ist dies nicht zuletzt durch ein umfassendes Werkverzeichnis dokumentiert. Also eine Schau in bester Tradition des Museums als eines Ortes, an dem Forschung betrieben, präsentiert und publiziert wird. Es ging nicht zuletzt auch darum, die faszinierende Arbeit von Dicker und Singer einer jüngeren Generation zu vermitteln.

Ausstellungsansicht Friedl Dicker-Brandeis. Werkstätten bildender Kunst, Universitätsgalerie der Angewandten im Heiligenkreuzerhof 2022
Foto: kunst-dokumentation.com

SN: Das Bauhaus hat Friedl Dicker natürlich geprägt. Auffallend ist die lange Ausbildung, die sie hatte. Es wird oft ihre Herkunft aus dem Kleinbürgertum erwähnt, was gar nicht damit zusammenzupassen scheint. Besucht man das Bauhaus-Museum in Weimar festigt sich der Eindruck, dass sie eine sehr engagierte Schülerin war. In den Bauhaus-Alben kommt sie mit mehreren Werken vor, und man sieht hier bereits ihre Vielseitigkeit, mit der sie Materialien oder Formen etwa in Hell-Dunkel-Verwerfung von 1919, Materialstudie von 1919-23 oder einem Gobelin (datiert 1920-24) unterschiedlich aufgreift. Die Sprache der Moderne hat viele Facetten und nicht wenige Künstler:innen sind später vom Konstruktivistisch-Abstrakten abgerückt. Toyen etwa hatte sich ca. 1930 dem Gegenständlichen zugewandt. Was war überhaupt mit den tschechischen Surrealist:innen? Gibt es da Bezugspunkte? Das wäre für ihre spätere Malerei interessant. Sicher war das Bauhaus prägend, aber ist es das auch geblieben?

AN: Ich zweifle, ob man Friedl Dicker mit der Etikettierung als „Kleinbürgerin“, wie das in der aktuellen Publikation der Universität für angewandte Kunst wiederholt geschieht, gerecht wird. Über ihre Kunstwerke sagt das jedenfalls nichts aus. Ein Manko der bisherigen Aufarbeitung ist sicher die fehlende Kontextualisierung, vor allem, wenn man Friedl Dickers so genannte „freie“ künstlerische Arbeiten – abseits der doch eher „angewandten“ Tätigkeit im und für das Atelier – in Betracht zieht. Das hat auch mit einer gewissen Tendenz der Forschung zu tun, die lange Zeit bemüht war, die Singularität Dickers in der österreichischen Kunst jener Zeit hervorzuheben. Hätte man Dicker von Anfang an im Kontext des Bauhauses und der Avantgarden um 1920 analysiert, wäre man zu einem differenzierteren Urteil und besseren Verständnis gelangt. Das steht in jedem Fall noch aus. Überlagert wird jedoch jede Beschäftigung mit Friedl Dicker von ihrem furchtbaren Schicksal. Es ist aber bei aller Notwendigkeit, Dickers Ermordung in Auschwitz zu thematisieren, meines Erachtens falsch, ihr ganzes Leben und Arbeiten nur von diesem Ende her zu lesen. Deshalb haben wir in der Ausstellung im Wien Museum das Utopische, Optimistische der Arbeiten des Ateliers in den Vordergrund gerückt und das Schicksal der beiden Protagonisten erst am Ende der Ausstellung gezeigt – auch um deutlich zu machen, dass uns die bunten Wohnräume des Ateliers zwar ästhetisch nahe erscheinen können, dass uns aber ein ungeheurer zivilisatorischer Bruch von ihnen trennt. Die Kultur, die sich in diesen Wohnräumen eingerichtet hat, existiert nicht mehr.

Ausstellungsansicht Atelier Bauhaus, Wien. Friedl Dicker und Franz Singer, Wien Museum MUSA 2022/23
Foto: TimTom

SN: Den beiden anderen Ausstellungen war eine Suche nach einem Ganzen oder besser nach einem Rahmen gemeinsam. Ist der „Handlungs- und Reflexionsraum“, wie es in einem Text der Publikation der Angewandten heißt (1), nun ausgelotet, trotzdem sich keine Gesamtheit einzustellen vermag? Man erhält bisweilen den Eindruck, dass die fehlende Gesamtheit in „Raum-Schleifen“, „Dynamisierungsprozessen“ oder „dynamisierter Räumlichkeit“ (2) methodisch überformt wird. Macht es tatsächlich Sinn neue Kriterien aufzustellen, wie diese etwa für die Mappe Utopia, an der Dicker am Bauhaus unter Johannes Itten mitarbeitete, versucht wurden? Die Sprache der Moderne kann man auch als Werkzeug verstehen, das die Avantgarden benutzten. Ähnliche Bild-Text-Arbeiten gibt es von Apollinaire bis Hausmann, die sicher am Bauhaus bekannt waren. Einerseits, so entsteht der Eindruck, sucht man also nach einer Methode, die Dicker gerecht wird (und womöglich eine Einordnung in die Internationale Moderne gewährleisten soll), andererseits fragt man sich, wie es mit der Aufarbeitung von Quellen ist, die nicht allzu oft erwähnt werden? 

AN: Ich denke, ein „Ganzes“ bei Friedl Dicker sehen zu wollen, ist fast manipulativ. Stattdessen sollte man die Brüche betonen, was viel interessanter ist und vor dem politischen und gesellschaftlichen Hintergrund jener Zeit auch näher liegt. Schwierig ist bei Dicker die Quellenlage. Hier muss man an die Pionierarbeit von Elena Makarova erinnern, deren Initiative es zu verdanken ist, dass die jetzt von der Forschung verwendeten Briefe transkribiert und online verfügbar sind. Zugleich wissen wir aber erstaunlich wenig über Friedl Dickers Biografie und die innere Motivation, die zu diesem vielgestaltigen, fast sprunghaft wechselnden und für eine gängige monografische kunsthistorische Betrachtung irritierenden Oeuvre geführt hat. Zugleich besteht die Gefahr, dass sich Mythos und Fakten vermischen. Vieles ist nach wie vor rätselhaft, wird rätselhaft bleiben. Ich denke, es gibt eben nicht ein „Werk“ von Friedl Dicker, sondern es gibt viele Werke, und es gibt womöglich auch viele, zumindest mehrere „Friedl Dickers“.

Ich teile auch den Eindruck, dass Friedl Dickers Leben und Werk heute mitunter etwas mutwillig in bestimmte Richtungen gebogen wird. So scheint mir etwa die erwähnte Zuordnung zum „Kleinbürgertum“ dem Bemühen mancher Forscherinnen und Forscher geschuldet zu sein, Dicker als Opfer „intersektionaler“ Diskriminierung zu lesen (Frau, Jüdin, Kleinbürgerin, politisch verfolgt, etc.), was einer bestimmten Tendenz der gegenwärtigen Forschung entspricht. Dabei war Dickers Vater immerhin Kaufmann und muss ihre zehnjährige künstlerische Ausbildung ja auch finanziert haben. „Unterprivilegierte“ sehen um 1920 wahrlich anders aus und gehen nicht zum Studium ans Bauhaus.

Ausstellungsansicht Friedl Dicker-Brandeis, Lentos Kunstmuseum Linz 2022
Foto: Reinhard Haider

Friedl Dicker könnte ein Paradebeispiel für eine methodisch differenzierte monografische Forschung sein, die scheinbare Widersprüche, wie sie in Dickers Arbeiten über die Jahrzehnte auftreten, aushält und akzeptiert, dass es in einer künstlerischen Biografie immer auch unterschiedliche Phasen gibt, sogar solche, in denen die Kunst vielleicht nicht prioritär ist, was nicht unbedingt ein Defizit sein muss, weil es Wichtigeres als die Kunst geben kann. Friedl Dicker unaufgeregt und nüchtern zu betrachten und sie weder als Opfer noch als Heldin zu stilisieren, wäre dringend geboten.

SN: Anstatt die Parallele zum russischen Konstruktivismus zu suchen, könnte man solchen zu Künstlerinnen wie Marianne von Werefkin, Gabriele Münter oder Charlotte Salomon nachgehen, die auch Knicke in ihren Biografien haben und keine untrennbare Einheit von Künstlerin und Werk vorweisen können. Viele haben ja auch wie Varvara Stepanova und Ljubov Popova auch aufgehört Bilder zu malen, um in die Produktion zu gehen. Politische Haltungen spielen dabei eine große Rolle. Wie verhält es sich mit den politischen Fotomontagen von 1932-33. Sind sie eine singuläre Arbeit geblieben? Wissen wir da jetzt mehr?

AN: Der Vergleich mit anderen Künstlerinnen jener Zeit wäre sicher erhellend, auch in Hinblick auf biografische Parallelen. Das würde auch Aufschluss geben über Dickers Rolle als Frau in einer nach wie vor von Männern dominierten Kunstwelt, egal ob am Bauhaus, im Atelier oder als „freie“ Künstlerin – ein Aspekt, über den vorwiegend Mutmaßungen und Behauptungen kursieren. Auch in Hinblick auf Dickers politisches Engagement müsste man verstärkt den Kontext einbeziehen und nicht alle Arbeiten unter diesem Aspekt betrachten und analysieren. Das politische Engagement wird ja erst ab 1930 und dann für eine relativ kurze Phase vorherrschend, ist vielleicht eine Episode, später und bis zuletzt rückt die pädagogische Tätigkeit in den Vordergrund.

Friedl Dicker-Brandeis, Fürchtet den Tod nicht, 1932–33, Kunstsammlung und Archiv, Universität für angewandte Kunst 
Reproduktion: Foto Leutner, Wien

Die großen, dezidiert politischen Fotocollagen aus den frühen 1930er Jahren sind wohl – wie vieles bei Friedl Dicker – tatsächlich eine singuläre Erscheinung gewesen, auch wenn wir Verfahren der Collage und Montage, die ja in den Avantgarden der 1920er Jahre allgegenwärtig sind, ebenso in früheren und späteren Werken finden können. Insofern müsste man den jüngst aufgetauchten politischen Trickfilm, an dem sie maßgeblich beteiligt war, verstärkt unter diesem Gesichtspunkt betrachten.  Eigenartig und zugleich bezeichnend für einen Strang der aktuellen Forschung zu Dicker finde ich, wenn die Glasnegative der Collagen aufgrund der im Bild erkennbaren Hintergrund-Details (Bettdecke, Sessel) von Stefanie Kitzberger jüngst als Nachweis des Politischen im Privaten in der Biografie Singers gedeutet werden (3) – und nicht etwa als Zeichen einer womöglich prekären Situation, in der diese Collagen angesichts der drohenden politischen Verfolgung im Wortsinn „heimlich“ fotografiert werden mussten. Und man könnte auch fragen, ob ein Zweck der Glasnegative nicht auch war, die Collagen reproduktionsfähig und damit erst politisch wirksam zu machen. Allerdings könnte man dann nicht daraus auf eine allgemeine Prekarität von Dickers Leben und ihrer Kunst schließen und sie zum Opfer „klassistischer, antisemitisch-rassistischer und misogyner Diskriminierung“ stilisieren, wie Kitzberger das tut.(4) Abgesehen davon sind „Collage“ und „Montage“ aber womöglich geeignete Metaphern, unter denen sich dann doch wieder ein „Ganzes“ zusammensehen ließe – allerdings ein zersplittertes, wieder zusammengefügtes, brüchiges, überraschendes, irritierendes und sich vorgefasster Meinung widersetzendes Ganzes.

  

1. Daniela Stöppel, Raum-Schleifen. Politische Dimensionen von Schichtung, Verwebung und Verschlingung im Werk von Friedl Dicker-Brandeis im Kontext der europäischen Avantgarden, in: Stefanie Kitzberger, Cosima Rainer, Linda Schädler (Hg.), Friedl Dicker-Brandeis. Werke aus der Sammlung der Universität für angewandte Kunst, Wien 2023, S. 20.

2. Ebenda, S.22.

3. Stefanie Kitzberger, Kunst im Angesicht des Faschismus. Zum Politischen im Werk von Friedl Dicker-Brandeis ca. 1930 bis 1942, in: Kitzberger, Rainer, Schädler, S. 179 und 186.

4. Ebenda, S. 178.

Andreas Nierhaus ist Kunsthistoriker und Kurator der Architektursammlung des Wien Museums (seit 2008) sowie Privatdozent der Universität Wien (seit 2022). Zahlreiche Ausstellungen und Publikationen zur Architektur des 17. bis 20. Jahrhunderts.

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Rosemarie Trockel

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