Michèle Pagel: Reisst die Hütte ab!

Michèle Pagel, Reisst die Hütte ab, Ausstellungsansicht Salzburger Kunstverein 2023
Foto: Andrew Phelps, © Salzburger Kunstverein

Salzburger Kunstverein 06.05 bis 02.07.2023

Michèle Pagel zählt zu einer Generation in Wien lebender jüngerer Bildhauerinnen, die sich mit großer Leichtigkeit, bildhauerischem Können und Witz gesellschaftlichen und künstlerischen Themen widmen. Geboren 1985 studierte die Künstlerin in Leipzig und Wien. Ihre Arbeiten amüsieren und faszinieren derzeit das Publikum im Salzburger Kunstverein.

Reisst die Hütte ab! befasst sich mit dem Phänomen Einfamilienhaus, dem dahinterstehenden Familien- und Gesellschaftsmodell seit den 1950er Jahren und dessen ökonomischen Bedingungen und ökologischen Folgen. An der Wand hängt ein Plakat mit dem Text „Liebe ist… körperlicher und emotionaler Besitz“, ein vergrößerter Cartoon, ursprünglich in der Zeitung Heute veröffentlicht. Die Liebenden besitzen einander und das Einfamilienhaus, das Auto und was noch alles damit in Verbindung stehen mag. Vor diesem Plakat finden wir eine Kleinfamilie in weißem Beton gegossen, die Elternfigur als Boxsack mit Babytrage, hochgezogen mit einem Flaschenzug, der von einem in den Holzboden gerammten Betonpenis gehalten wird. Der Bub und das Mädchen – beide Körper Müllsäcke aus weißem Betonguß – zeigen sich zünftig in Lederhose und Dirndlkorsett und werden damit lokal verankert. Die Köpfe sind Sackzipfel, die Titel White Trash Bag #1 und #2. In der Nähe des Mädchens ein Puppenhaus auf einer gedrehten Holzsäule (Solide Anlage). Es handelt sich dabei um einen mit Zement ausgegossenen Vogelkäfig, dessen Fensterläden von Metallplatten mit Sparkassenlogos gebildet werden. Ebendiese Logos finden sich auch auf dem Spielzeugauto, ein Sportwagen, dessen nach oben geklappten Türen aus solchen bestehen. An der Ausstellungswand hinter der Familie schaut man durch ein vergittertes Fenster auf eine aufgemalte abbröckelnde Ziegelfassade. Am Fenstersims im Innenraum befindet sich ein Vogelnest mit vier Vögeln, die mit offenen Schnäbeln auf Futter warten, eine Metapher auf beengte ökonomische Verhältnisse, die oft mit der Verwirklichung des Traums vom Einfamilienhaus einhergeht. Im rechten Segment des Ausstellungsraums, vom Eingang aus betrachtet, hält sich also eine Kleinfamilie auf, die beiden Kleinkinder haben große geschlechtsspezifisch konnotierte Spielsachen, ein drittes Kind ist noch um den Bauch des Elternteils gebunden, der vielleicht Vater und Mutter zugleich repräsentiert.

Michèle Pagel, Reisst die Hütte ab, Ausstellungsansicht Salzburger Kunstverein 2023
Foto: Andrew Phelps, © Salzburger Kunstverein

Fokussiert die Ausstellung hier auf die Kleinfamilie, die mit ihren Trachten als lokales Phänomen lesbar ist, so wird der Blick in der Mitte des Raumes ins Globale erweitert. (1) Hier befinden sich vier Vitrinen mit zahlreichen kleinen Zeichnungen und Malereien der Künstlerin aus den letzten zehn Jahren. Diese werden ergänzt durch ein Sammelsurium von diversen Materialien zum Thema Kleinfamilie, Einfamilienhaus und dessen Finanzierung durch die Bausparkassen (Wüstenrot dient hier als Beispiel), Gewalt in der Familie, Urlaubsträume etc. Dazu gesellen sich in der Raummitte einige Skulpturen. Beispielsweise Wüstenrot oder Planet B, ein grob geschweißter dreifüßiger Metallständer, in dem ein großer eckiger Globus aus Ziegeln gehalten wird, geschmückt mit Palmen aus Kronkorken. Die Ziegeloberfläche ist rauh und unwirtlich, nur ein kleiner Grünstreifen ist übergeblieben. Ist der Rest schon zugebaut mit Einfamilienhäusern, versiegelt für Straßen, Supermärkte, aufgrund des Klimawandels schon zur Wüste geworden? Unweit vom Globus ein Tischchen mit fest verbundenen Schwimmflossen, auf die sich ein Bild des auf Grund gegangenen Schiffs „World Discoverer“ (2) legt. Die „World Discoverer“ war ein Vorreiter der Expeditionskreuzfahrt, die von 1975 bis ins Jahr 2000, als sie auf das „Mid Reef“ vor der Salomoneninsel Honiara aufgelaufen war, Tourist:innen in bis dahin für sie nicht zugängliche Gegenden der Welt beförderte. Wir verschmutzen und zerstören mit unserer Lebensweise den Planeten und schränken – aufgrund der damit verbundenen ökonomischen Abhängigkeit und ökologischen Katastrophe – zugleich unsere Beweglichkeit radikal ein, wir kleben buchstäblich fest, wie die Flossen, mit denen man nicht mehr schwimmen kann, und wir laufen auf Grund wie das Boot.

Michèle Pagel, Lantschern, Gatschen, Quilk, 2014, Salzburger Kunstverein 2023
Courtesy of the artist und Galerie MEYER*KAINER, Foto: Andrew Phelps, © Salzburger Kunstverein

Auf der linken Raumseite, dem vergitterten Fenster gegenüberliegend, hängt ein riesiges Mobile vor der Wand, das nach dem Falco-Song Die Maschine brennt benannt ist. Falco schildert da aus der Perspektive nach seinem Tod einen Flugzeugabsturz, den er nicht überlebte. (3) Das Mobile zeigt einen großen Engelskopf mit vergoldeten Flügeln, der einen Mond mit Satelliten und Weltraumschrott balanciert. Hier befinden wir uns also außerhalb der Erde im Weltraum. Der Titel mit der Referenz auf den Falco-Song, bei dem nur die Privilegierten mit Fallschirmen den Flugzeugabsturz überleben, verweist auch auf die Tatsache, dass einige Superreiche mittlerweile an der Erforschung eines Planeten B arbeiten, um die zerstörte Erde rechtzeitig verlassen zu können und damit Hand in Hand gehend den Weltraum verschmutzen.

Michèle Pagel, Wüstenrot oder: Planet B, 2023, Salzburger Kunstverein
Courtesy of the artist und Galerie MEYER*KAINER, Salzburger Kunstverein 2023, Foto: Andrew Phelps, © Salzburger Kunstverein

Das riesige Mobile hängt nicht frei im Raum, sondern an der Wand, der Bereich davor ist mit einer Kordel abgesperrt, sodass es zu einem Bild an der Wand wird und das wesentliche Element des Mobiles, nämlich seine Bewegung und Beweglichkeit, nicht zur Geltung kommen können. Das ist umso auffallender als Pagel ansonsten hervorragend mit dem Raum und dem Körper/der Skulptur im Raum umzugehen vermag. Würde das Mobile jedoch in der Mitte des Raumes hängen, wäre das Konzept, das eine Abfolge vom Lokalen über das Globale bis in den Weltraum zeigt, nicht stimmig. Pagel versteht es, eine rohe und grobe, manchmal an DIY-Werke erinnernde Ästhetik mit scharfer Analyse und beißendem Witz zu verbinden, und sie schafft es, einzelne skulpturale Arbeiten miteinander und mit dem Raum in Beziehung zu setzen.

Die Ausstellung ist hoch aktuell und sehr vergnüglich, eine Ausstellung, in die man sich vertiefen kann und in der man immer wieder neue Querverbindungen entdeckt, ein schönes Geschenk von Seamus Kealy, dem scheidenden Direktor des Salzburger Kunstvereins an sein Publikum.

(1)   Dank an Sina Moser, dass sie mir das Video von der Pressekonferenz zu dieser Ausstellung gezeigt hat. Vgl. auch Text von Patricia Grzonka im Heft zur Ausstellung.

(2)   https://de.wikipedia.org/wiki/World_Discoverer (letzter Aufruf, 19.06.2023).

(3)   https://falco-compendium.at/musik/einzelhaft/maschine-brennt/ (letzter Aufruf, 19.06.2023).

 

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