Ich sehe mich als Ermöglicher

Thomas D. Trummer im Gespräch mit Hildegund Amanshauser, Bregenz 25.02.2022, anlässlich der Ausstellung von Otobong Nkanga

Thomas D. Trummer
Foto: Miro Kuzmanovic © Kunsthaus Bregenz

Hildegund Amanshauser: Ausgangspunkt für dieses Gespräch ist die Ausstellung von Otobong Nkanga, die bis 6. März 2022 im Kunsthaus Bregenz läuft. Aus diesem Anlass möchte ich dich zur globalen Ausrichtung des Kunsthauses Bregenz interviewen.

Zuerst aber eine aktuelle Frage: Ihr habt als einziges größeres Ausstellungshaus weit und breit sehr rasch auf die geänderte Situation des Kunstbetriebs, der Kunstinstitutionen und Kunstschaffenden in der Pandemie reagiert. Bereits am 5. Juni 2020, also unmittelbar nach dem ersten Lockdown, habt Ihr die Ausstellung „Unvergessliche Zeit“ u.a. mit William Kentridge, Rabih Mroué und Markus Schinwald eröffnet. Und du hast das Buch „Bilder in der Pandemie“ geschrieben, das die Kunstgeschichte aus dem Blickwinkel der Pandemie neu erzählt. Wie kam es dazu?

Thomas D. Trummer: Zuerst möchte ich mich für dein Interesse bedanken. Wir wollten über die jüngere Geschichte sprechen. Zugleich verdüstert die Gegenwart. Gestern ist Russland in die Ukraine einmarschiert. Es ist beklemmend, es gibt Krieg, die Bilder verunmöglichen den Rückblick auf die eigene Sache, noch mehr die Vorausschau. Es ist, als wollten die Krallen der Krisen nicht loslassen. Schon der Lockdown war ein Schock. Aber jetzt? … Vor nicht ganz zwei Jahren, unmittelbar nach der verordneten Schließung im Zuge von Covid-19 habe ich einen bekannten Museumsdirektor im Radio sprechen hören. Er meinte, sein Museum benötige umgehend einige Millionen Soforthilfe. Diese Reaktion missbilligt die Kunst, sieht allein die Wirtschaftlichkeit, den Betrieb, das Geschäft. Als kulturelle Institution stellt sich doch die Frage, welche Rolle die Kunst in einer herausfordernden gesellschaftlichen Situation spielen kann. Ist es nicht die Kunst, die in prekären Zeiten uns diese begreifen hilft? Kunst mag vielleicht nicht systemrelevant sein, aber sie ist existenzrelevant. Daraus erwuchs die Überzeugung, dass wir als Kunsthaus Bregenz Entscheidendes beitragen können. Wir haben zum frühesten Zeitpunkt wieder geöffnet. Und zwar mit einer Ausstellung, die nur Kunst zeigte, die während der Quarantäne entstand. Es waren großartige Werke zu sehen: Helen Cammock, die Turner-Preisträgerin, Marianna Simnet, Annette Messager, William Kentridge, Ania Soliman, Rabih Mroué und andere mehr. Und Markus Schinwald, dessen Gemälde mit Prothesen und Gesichtsmasken ja viele Jahre zuvor entstanden sind. Ich bin überzeugt, dass eine aktive Kunstinstitution es als Aufgabe ansehen muss, die aktuelle Kunst abzubilden, sie zu fördern und ihr Gelegenheiten für eine Öffentlichkeit zu sichern. Sofort und ex tempore. Viele Museen haben angesichts der Krise indes versucht, Zeit zu gewinnen. So als wäre es angemessen zu warten, bis die Werke gut abgehangen sind. In den folgenden Wochen habe ich begonnen, die durch die Pandemie veränderte Wahrnehmung ins Zentrum von Überlegungen zu rücken und an ausgewählten Werken der Kunstgeschichte zu beschreiben. Zuerst als Podcast, dann später als Sammlung von Essays in einem handlichen Buch, das noch 2020 herauskam. Wie die Ausstellung war auch die Publikation ein großer Erfolg.

Ausstellungsansicht Otobong Nkanga, Unearthed – Twilight, 2021, Kunsthaus Bregenz, 2021
Courtesy: of the artist, © Otobong Nkanga, Foto: Markus Tretter

HA: Vor dem Hintergrund meiner eigenen Forschungen zum postkolonialen Diskurs und meinem Programm der Internationalen Sommerakadmie für Bildende Kunst Salzburg interessiert es mich besonders, die globalen Ausrichtung des Kunsthauses. Du hast zum Beispiel 2016 mit Wael Shawky, 2017 mit Adrian Villar Rojas ... Ausstellungen gemacht ...

TDT: und auch mit Theaster Gates, der sich diesen Themen widmet.

HA: Ja und dieses Jahr planst du eine Ausstellung in Venedig. Dort zeigt Ihr Werke von Otobong Nkanga und Anna Boghiguian und, wie im Pressetext steht, geht es um „Fragen der Gegenwart: politische Verantwortung, Postkolonialismus, Ressourcenverteilung, Klimakrise, digitale Unterwanderung, Gender und nicht zuletzt die Corona-Pandemie.“ Es scheint dir also ein Anliegen, zum 25. Geburtstag des Kunsthauses nicht nur zwei dezidiert postkoloniale, sondern auch weibliche Positionen zu zeigen und auch insbesondere in Venedig, das ist ein Statement, worum geht es dir dabei?

TDT: Ich verfolge die Vorstellung von einem aktiven, perspektivisch offenen Haus. Anlässlich des 25 Jahr-Jubiläums des Kunsthaus Bregenz wollten wir einen Auftritt anderswo wagen. Das Gebäude, das wir in Venedig gefunden haben, ist großartig: die Scuola di San Pasquale, ein Hospiz aus dem frühen 17. Jahrhundert. Ein wenig gleichen die Räume sogar dem Kunsthaus von Peter Zumthor. In der Anmutung, der Leere und dem Licht. Der Ort liegt in der Calle del Cimitero, der Friedhofsgasse. Er hat mit Leiden und Ableben zu tun. Die Scuola liegt direkt neben der Kirche San Francesco della Vigna, einer mächtigen Renaissance-Kirche, die Sansovino und Palladio errichtet haben. Dazu gehört ein beachtlicher Klosterkomplex, Obstgärten, Kreuzgänge und ein Weinanbau, das alles mitten in Venedig. Die Patres sind bis heute Eigentümer. Venedig war für uns nicht nur wegen der Biennale interessant, es ist auch ein besonderer Kreuzungspunkt von Ost und West, ein Umschlagplatz von Waren und Ideen, ein frühkolonialistischer Hub, wenn man so will. Die Republik Venedig war lange Zeit ein erfolgreiches, aber auch ein grausames Regime, das zum Beispiel den vierten Kreuzzug nutzt, um vorgeblich Jerusalem zu erobern, dabei aber Konstantinopel plündert. Wael Shawky, der mit seinen „Cabaret Crusades“ im KUB 2016 zu sehen war, stellt das in seinen Filmen faszinierend dar, mit gläsernen, surrealistisch mutierten Marionetten. Sie sprechen ein sonores Arabisch, zum Beispiel in einer Szene, in der die Kreuzfahrer angeführt vom Dogen in Zadar an Land gehen, eine christliche Stadt, die sie mutwillig zerstören, um einen Konkurrenten in der Adria zu schwächen.

HA: Kommen wir zur deinem Ausstellungsprojekt mit Otobong Nkanga und Anna Boghiguian in Venedig zurück, wie laufen die Vorbereitungen?

TDT: Der Moment, als die beiden Künstlerinnen das erste Mal den Ort gemeinsam besuchten, war besonders. Pater Stefano, der Franziskaner, kam mit einem Riesenschlüssel aus Eisen, wie in einem Hitchcock Film, und öffnete die Tür. Otobong Nkanga begann sofort zu singen. Wir anderen hörten nur zu, es war eine Präsenz zu spüren, vielleicht sogar Andacht. Der Raum wurde nicht nur gefüllt, sondern erprobt. Kommt er auf mich zurück? Die jüngere Soziologie, Hartmut Rosa, hat ja über den Resonanzraum geschrieben, auch über den Resonanzraum der Sozialen Medien, aber das ist es genau nicht gewesen. Es ist der Resonanzraum der eigenen körperlichen Präsenz, aber auch der Würde des Ortes. Mich hat das Geschehen an Susan Philipsz erinnert, die ja das Kunsthaus in einen Klangkörper verwandelt hat. Es gibt nicht nur Musik im Raum, sondern auch den Raum in der Musik. Übrigens wurde ja die Mehrstimmigkeit in San Marco in Venedig erfunden, deshalb verwenden wir heute das Wort „Chor“. In der Scuola führen zwei Treppen in das Obergeschoss, es hat die gleichen Ausmaße wie das Erdgeschoss, ist aber heller und luftiger. Und Anna Boghiguian sagte sofort: „This is my space“. Sie hatte schon im Vorfeld die Idee von einem Schachspiel. Boghiguian malt historische Protagonist*innen als seine Figuren, die alle österreichischer Herkunft sind. Ausgangspunkt ist die Figur der Marie Antoinette.

HA: Sie ist die Dame?

TDT: Nein, die Figuren sind nicht festgelegt, zumindest noch nicht. Es geht eher um Konstellationen, um Konflikte und Gegenüberstellungen. Es ist ein Panoptikum des Widerstreits. Sigmund Freud ist zu sehen, die Pazifistin Bertha von Suttner, der Autor und Marxist Felix Salten mit seiner literarischen Erfindung „Bambi“ – das Kitz sitzt auf seinem Schoß – aber auch andere, die zweifelhaft und zwiespältig sind. Es ist vor allem eine Figur dabei, zu der Bogighuain einen persönlichen Bezug hat: Aribert Heim, ein Österreicher, der im KZ Mauthausen Lagerarzt war. In den 1980er Jahren war er die von Simon Wiesenthal meistgesuchte Person. Nach dem Krieg arbeitete Heim als Gynäkologe in Baden-Württemberg, er erwarb ein Zinshaus in Berlin, wofür er regelmäßig Steuern zahlte. Am Tag vor seiner Verhaftung flüchtete er nach Ägypten, nach Kairo, in Boghiguians Heimatstadt. Dort lebte er bis zu seinem Tod 1992. Heim lebte nicht wirklich under cover, er hatte die Angewohnheit, jeden Samstagmorgen rosa Candies an Kinder zu verteilen. Auch an die kleine Anna Boghiguian. Dies hat vorerst nichts mit Kolonialismus zu tun, aber mit der Geschichte des Asyls und mit der Geschichte dieser Region, den politischen, religiösen Konflikten, man denke an Herzl und die Kriege, die Israel gegen Ägypten geführt hat. Zudem ist Alexandria ein wichtiger Bezugspunkt für Venedig, von dort stammen die Reliquien des Heiligen Markus. Und Boghiguian gewann 2015 den Goldenen Löwen, zudem war Otobong Nkanga ebenfalls bei der letzten Biennale zu sehen.

HA: Würdest du sagen, dass diese Ausstellung, ein Statement in Bezug auf den Postkolonialismus ist? 

Ausstellungsansicht Otobong Nkanga, Unearthed – Twilight, 2021, Kunsthaus Bregenz, 2021
Courtesy: of the artist, © Otobong Nkanga, Foto: Markus Tretter

TDT: Durchaus, aber wichtiger sind die Ideen der Künstler*innen, die sind vielfältiger, mehrspuriger. Hier in Bregenz legen wir Wert darauf, monografische Ausstellungen zu machen. Es ist nicht so, dass es eine kuratorische Richtlinie gäbe oder einen fixierten Programmschwerpunkt. Den Künstler*innen maximale Gestaltungsfreiheit zu bieten, ist die Absicht. Dazu die Ideen des Teams zur Geltung zu bringen. Natürlich auch in Venedig. Dabei ist der Ort so vielfältig inspirierend, historisch, architektonisch, politisch usf.

HA: Wie bist du auf Otobong Nkanga gekommen?

TDT: Zum ersten Mal habe ich ein Werk physisch in Sharjah 2019 gesehen. Warst du dort?

HA: Ja, da haben wir uns auch getroffen.

TDT: Ja richtig, dann erinnerst du dich. Es war eindrücklich. Es gab einen Hain unter der Sonne, umrandet von Wänden aus Lehm. In die Nischen waren monochrome Bilder eingelassen, in den Farben der Sonnenuntergänge, gegen den unteren Rand waren sie dunkler, wie Pigmente unter Erdenschwere. Und in der Mitte einige Krater, flache Tümpel. Die Becken waren mit Salzwasser gefüllt, bernsteinfarben und ölig, die heiße Luft und den Himmel spiegelnd. Daneben stand eine verendende Palme, verkümmert durch den übersäuerten Boden. Ein Requiem in einem Hortus conclusus. Einige dieser Motive kehren in der Ausstellung in Bregenz wieder.

HA: Kann man sagen, deine kuratorische Entscheidung betrifft vor allem deine Auswahl? Wie triffst du deine Entscheidungen?

TDT: Es ist kaum zu bestreiten, dass sich manches Urteil nur auf ein Je-ne-sais-quoi berufen kann, wie man im 18. Jahrhundert zu sagen pflegte, eine Gewissheit im Ungewissen. Doch wichtig ist mir, dass jede Ausstellung einzigartig ist, unwiederholbar und maßgeschneidert für die außergewöhnlichen Räume des KUB. Freilich bin ich auch von Kasper König geprägt. Er spricht gerne von einer „Setzung“, – er meint damit eine skulpturale Präsenz, eine markante künstlerische Haltung, einen Akt, der sich durch Raumnahme sichtbar macht. Solche Setzungen funktionieren in Bregenz besonders gut, ungeachtet ob sie mächtig und überwältigend oder punktuell und flüchtig sind. Meine Auffassung ist, dass sie nur gelingen, wenn sie anti-kuratorisch bleiben.

HA: Was meinst Du damit?

TDT: … dass die Kunst zur Entfaltung kommt und nicht die Idee, die an sie herangetragen wird. Das Commitment, vier Stockwerke, ein ganzes Haus einer/m Künstler*in zu übertragen, ist einmalig. In dieser Größenordnung und Prominenz gibt es das meines Wissens nirgendwo anders. Auch in den größten Häusern, wie der Tate Modern, dem Guggenheim, dem Stedelijk etc, gibt es immer noch etwas anderes, – eine Sammlung, einen Education Space, eine Blackbox, da ist irgendwo eine Rolltreppe und auf jeden Fall ein Shop. All das haben wir nicht, selbst Labels finden sich nur außerhalb der Räume. Die Kunst erscheint unbehelligt von ihren kommentierenden und verwertenden Zutaten. Dazu kommt, dass die Administration extra untergebracht ist. Das bedeutet, dass als Mitarbeiter*innen das Kunsthaus genauso betreten wie die Besucher*innen. Wir erleben die wechselnden Stimmungen, das Licht, den Hall, die Atmosphäre, all das, was diese Architektur so besonders macht und natürlich die Werke, die sich die Räume aus Beton zur Bühne nehmen. Und das jeden Tag aufs Neue.

HA: Wie recherchierst du für dein Programm?

Ausstellungsansicht Otobong Nkanga, Unearthed – Twilight, 2021, Kunsthaus Bregenz, 2021
Courtesy: of the artist, © Otobong Nkanga, Foto: Markus Tretter

TDT: Hmmm. … ja….was das Recherchieren betrifft, da versuche ich mich mit dem Einlesen zurückzuhalten.

HA: Das heißt, du bist ein anti-intellektueller Kurator? (Lacht.)

TDT: Womöglich. (Lacht.) Das Ziel muss sein, ähnlich wie ein/e Dirigent*in ein Stück neu hören zu wollen, sich eine alternative Sicht abzuringen. Ich möchte ausgetretene Pfade vermeiden. Ganz pragmatisch: Die Künstler*innen verbringen Zeit hier. Daraus ergeben sich enge Beziehungen, viele Gespräche, Anregungen. Bregenz ist nicht London, Shanghai, Mumbai oder Mexiko City, wo Gäste die Stadt in sich aufsaugen, Kontakte knüpfen und Freunde treffen. Hier ist der Fokus auf die Ausstellung gerichtet, auf das Team und das Tun, nicht auf Ablenkung. Dies stärkt auch die Beziehung zum Publikum. Viele Besucher*innen kennen die Künstler*innen schon vor der Eröffnung aus dem Café oder vom Weg zum Einkaufen.

HA: Wie informierst du dich?

TDT: Ich versuche viel zu reisen. Zumindest vor der Pandemie war dies gelebte Praxis. Doch wir sehen die vielen Flugstunden heute kritisch. Nun mache ich online Studio-Visits, zwei bis drei pro Woche. Es ist immer lohnenswert, in fremde Ideen eingeführt zu werden, Werkstätten und nasse Farben zu sehen. Einzig der Geruch fehlt, unvorhergesehene Momente der Mimik, die Neighborhood. Künstler*innen haben ein gutes Urteil, selbst wenn sie abschätzig sprechen. Mir ist die lebendige Auseinandersetzung wichtig, die Gegenwart, die Themen, die aus den Ateliers drängen. Zeitschriften oder bestimmte Diskurse interessieren mich weniger. Nicht Fahrwasser, sondern Rinnsale und Staubecken des Denkens sind zu finden.

HA: Wie positionierst du das Kunsthaus global?

TDT: Es war bereits bestens aufgestellt. Die Geschichte des Kunsthaus kann sich sehen lassen: Olafur Eliasson, Jeff Koons, Jenny Holzer, Louise Bourgeois, Cindy Sherman, Damien Hirst, Pierre Huyghe, VALIE EXPORT, um nur einige zu nennen, alle waren schon da. Noblesse oblige. Auch in der Kunst. Wenn jemand hinzu kommt, fordert das Line-up der Vorgänger*innen heraus, motiviert zu besonderer Leistung. Dazu kommt der Raum, die Architektur. Zum Beispiel Theaster Gates. Im Vorfeld der Ausstellung (2016) ließ sich Theaster die Raumabwicklungen schicken, er hat sie ausgedruckt mitgebracht und eingetragen, an welche Stelle welches Bild montiert werden soll. Dann betritt er das erste Mal das Erdgeschoss, mit dem dunklen Terrazzoboden und den großen Glaswänden. Wortlos zerreißt er den Stapel Papier. Die Blätter segeln auf den nackten Boden. Es war klar, wir beginnen von Neuem, Bregenz bekommt keine Ware, kein Shipment, sondern eine Setzung. Großartig.

HA: Also du bist fasziniert davon, wie sich die Künstler*innen an deinem Haus abarbeiten...

TDT: … abarbeiten stimmt nicht, wie sie es zum Blühen bringen.

HA: …wie sie es zum Blühen bringen und wie das dann mit deinem Publikum resoniert. Wie hast du deine Netzwerke entwickelt?TDT: Ich habe einige Jahre beim Siemens Arts Program und der Siemens Stiftung in München gearbeitet (2007 bis 2011 HA). Die Vorgabe war, dass wir eine Institution finden und mit dieser gemeinsam eine Gruppenausstellung entwickeln, ein Thema wählen und Ressourcen teilen. Zwei Drittel der Zeit war ich on the road und im Flugzeug. Diese Erfahrungen spielen heute noch eine große Rolle.

HA: Verstehe, damals hast du globale Netzwerke aufgebaut.

TDT: Ja. Ich habe mit Belgrad begonnen, bin dann nach Peking und Kiew, das gerade heute an diesem Tag schmerzt, – die Ausstellung hieß „Endless Sphere/Безкрайня сфера“ (2008), was ja phonetisch auch Endless Fear heißen kann – und dann nach Detroit etc, also in Orte, die Brüche zeigen, Verletzungen, oft auch unter prekären Aussichten leiden. In Buenos Aires wollte sich zuerst kein Thema darbieten. Es war Sommer auf der Südhalbkugel. Doch dann eine Beobachtung. Alle paar halbe Stunden sind Demonstrationen um die Plaza Mayor gezogen, mal die Mütter, mal andere, manchmal zehn Leute, manchmal Hunderte, den ganzen Tag. Das Auffälligste war, sie haben gesungen. Warum singen wir nicht im Norden?... war die Frage – nur zu Weihnachten und manchmal mit den Kindern, und am Fussballplatz, aber das ist danach peinlich. Wohl, weil Singen eine Gemeinsamkeit bedeutet. You never walk alone, sagt es bereits. Es gibt eine Angst vor dem Schulterschluss. Die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts haben die Menschen doktriniert, besonders die Jugend. Singen kann nur, wer sich abstimmt und gemeinsam einstimmt, und das wollen wir nicht mehr, genau das macht es uns suspekt ... Und dann machten wir eine Ausstellung ausschließlich mit Chören. („Coral Visual“, 2009)

HA: und hattet Ihr den Gehörlosenchor von Artur Zmijewski dabei?

TDT: Ja natürlich. Ein beklemmendes Werk, das Ringen um Ausdruck, eine Bachkantate in einer Leipziger Kirche. Natürlich auch mit Markus Schinwald und dem „Rattenfänger von Hameln“ von Benjamin Britten („Children’s Crusade“ HA) und vieles andere. Für ein solches Vorhaben einer Nischen-Ikonografie hilft das internationale Netzwerk.

HA: Letzte Frage: Wenn Ihr Euch in Venedig präsentiert, mit Anna Boghiguian und Otobong Nkanga, was möchtest du, dass die Leute über Euch erfahren, was soll das bewirken? Venedig ist ja ein globaler Kunstort, da kommen tatsächlich auch Menschen aus Afrika und aus Südostasien hin, du hoffst natürlich, dass sie alle zu dir kommen?

TDT: Ja, aber vor allem auch die Menschen aus Venedig.

HA: Venezianer*innen gibt es ja fast keine mehr, du meinst die „normalen“ Tourist*innen?

TDT: Ja alle Menschen, die Passant*innen, die Sinn Suchenden, die nichts Ahnenden. Wir haben eine offene Tür, kein Eintrittsgeld. Otobong Nkangas Stimme schallt auf den Platz, das ist eine Einladung. In der kühlen Scuola hängt ein funkelnder Wandteppich, ein Unterwasserbild ist zu sehen, dazu noch zwei Gedichte in Erde geschrieben, einige Pflanzen unter einem Altarbild. Was will man mehr?

HA: Dir geht es also um das Statement der Künstlerinnen?

TDT: Ja, um die Präsenz, um die Wirkung. Wer eine Ausstellung in Bregenz besucht, vergisst womöglich einige Werke nach ein paar Wochen, aber der Eindruck, das Gefühl, das man hatte, bleibt.

HA: Was macht das mit einem?

TDT: Wir bemerken unser eigenes Vernehmen. Die Berührung verändert Menschen. Im KUB erklimmen die Besucher*innen drei Stockwerke. Es ist fast wie in einer Symphonie. Viele werden ruhiger, achtsamer, schon wenn sie das Erdgeschoss betreten. Sie verlangsamen den Schritt, senken die Stimmen. Der Hall verdeutlicht ihnen die Exponiertheit im Raum, das eigene Befinden. Im Stiegenhaus beginnen sie, sich auszutauschen, resümieren Erfahrungen und entwickeln Erwartungen. Wie in den drei Pausen eines musikalischen Werkes. Der große Unterschied zur Symphonie ist, sobald die Besucher*innen im obersten Stockwerk, im letzten Satz, im Finale ankommen, finden sie die Möglichkeit vor, wieder umzukehren. Im Hinuntergehen durchschreiten sie die Räume ein zweites Mal, – eine Erfahrung im Rückwärtsgang. Menschen erleben sich als Wesen, die sich verändern, sich selbst anreichern. Angeregt durch die Kunst und ihre eigene Bereitschaft zur Begegnung.

HA: Und du siehst dich als Impresario, nicht als Kurator?

TDT: Ich sehe mich als Ermöglicher.

HA: Danke!

TDT: Ich danke dir.

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