Josef Dabernig, Lacrimosa
Josef Dabernig, Lacrimosa, 2024, Standbild
Das Gedächtnis, so kann man bei Pierre Nora nachlesen, ist das Leben, die Geschichte hingegen das, was nicht mehr ist. Der im Juni 2025 verstorbene französische Historiker, der den Begriff des „Lieu de mémoire“ (Erinnerungsort) prägte, hat mit seiner Essaysammlung Zwischen Geschichte und Gedächtnis, in der er sich Erinnerung und deren Historisierung in Praxis und Theorie widmete, nicht zuletzt die Kunstszene seit den 1990er-Jahren maßgeblich beeinflusst.(1)
Ausstellungsansicht Josef Dabernig. Lacrimosa, Grazer Kunstverein, Graz 2024
Foto: kunst-dokumentation.com
Um das Gedächtnis eines Hauses, seiner Bewohnerin und deren Familie geht es in Josef Dabernigs neuem Film Lacrimosa, der eine Begräbniszeremonie zum Thema hat. Lacrimosa war 2025 von der Akademie des Österreichischen Films in der Sparte Kurzfilm nominiert und stand 2024 im Zentrum von Dabernigs Einzelausstellung im Grazer Kunstverein (Kurator: Tom Engels). Mit einem der berühmtesten Begräbnisse der Kunstgeschichte, nämlich Courbets Ein Begräbnis in Ornans hat Lacrimosa gemeinsam, dass das Ereignis ebenso im Heimatort des Künstlers stattfindet, sprich in der Kärntner Marktgemeinde Kötschach-Mauthen. Dabernigs Tante Anni Dabernig ist hier Organistin und pensionierte Lehrerin und bewohnt die sich im Besitz der Familie befindliche Krassnig-Villa in Mauthen. Sie ist Protagonistin und Referenzpunkt des Films, wie Dabernig selbst ausführt: „Die betagte Tante schart ihren Urgroßneffen und ihre Urgroßnichten zum Trauergebet rund um einen Kindersarg. Gefaltete Hände, verstohlene Blicke, Rosenkränze und Leibstuhl sind Ingredienzen eines exzentrischen Kinderspiels, in welchem die illustre Gruppe zwischen Einschüchterung, Rebellion und einer gefährlichen Treppe über Seinsfragen stolpert.“(2) Die anwesende Tante und ihr Begräbnis sind eine Art von Verdoppelung und unterlegen dem Film einen Modus von Zeit, der dem Futurum exactum entspricht. Der weitere Verlauf wird in der Zukunft abgeschlossen sein, worauf auch Anni Dabernigs Einspielung von Bachs Arioso (Ich steh mit einem Fuß im Grabe) auf ihrer Orgel hinweist: „Nicht mehr ganz das Leben und noch nicht ganz der Tod“ hat Nora einmal den Zustand des Übergangs von Gedächtnis in Geschichte beschrieben.(3)
Josef Dabernig, Lacrimosa, 2024, Standbild
Langsam tragen die Kinder den Sarg über das enge Stiegenhaus von der Mansarde hinunter ins Erdgeschoß. Das kleine Holzobjekt ist zweifelsohne der dominante Bezugspunkt im Film. Zentral war es auch in der Grazer Ausstellung aufgebockt im ersten Raum positioniert, hier stand der Sarg zeremoniell einem Leibstuhl aus dem Haus gegenüber und an der nächstliegenden Wand war ein Votivbild angebracht, während andere Gegenstände aus dem Haus in den weiteren Räumen der Ausstellung zu sehen waren. Das Objekt ist hohl und vermutlich leer und scheint, denkt man an Roland Barthes „leere Zeichen“, von einem Überschuss des Signifikanten bestimmt. Wie verhält sich das Objekt zwischen Zeichen und Bedeutung? Barthes hat die zeremonielle Funktion von Zeichen hervorgehoben, die Spielregeln beinhalten, wie ja auch Dabernig vom „Kinderspiel“ spricht. Als rituelles Zeichen hätte der Sarg dann keinen eigentlichen Sinn, keine Bedeutung und bliebe ein „prachtvoller Signifikant, der das womöglich unbedeutende Signifikat auf später verschiebt“.(4) Womit wir wieder beim Futurum exactum wären.
Josef Dabernig, Lacrimosa, 2024, Ausstellungsansicht Josef Dabernig. Lacrimosa, Grazer Kunstverein, Graz 2024
Foto: kunst-dokumentation.com
Dennoch hat der Sarg, wie auch in der Ausstellung deutlich wurde, zusätzlich die Rolle einer Skulptur. In dieser Funktion und mit seiner strengen klaren Form hat er einen Gegenpart im gesprochenen Text, wo ein Amboss als „zeitlose Skulptur“ beschrieben wird. Wie schon in anderen Arbeiten Dabernigs stammt auch in Lacrimosa der Text des Films von Bruno Pellandini, den Johanna Orsini vorträgt. Pellandini spricht hier vom Haus seiner Großeltern im Tessin, vom Tod der Großmutter und deren Begräbnis. Es ist ein Abschied und eine Erinnerung an ein Haus, das nach Nora ein Erinnerungsort sein könnte. Im Unterschied zur sachlichen Sichtweise auf die Ausstattung der Villa in Mauthen spricht der Text vom weit blumigeren Süden jenseits der Alpen. Bäume tragen Früchte, Jasmin und Oleander blühen, das Holz knarrt. Hier ist alles voller Farbe und Töne und Bedeutung, wenn Bauteile oder Gegenstände beschrieben werden, die sich kumulativ zur Einheit eines Hauses fügen. Bisweilen treffen sich die unterschiedlichen Geschichten in der visuellen und textuellen Beschreibung von Dingen, die das Haus erst anschaulich machen, es quasi aufbauen. Im Film sind es die Blicke auf die persönlichen Gegenstände von Anni Dabernig, auf Möbel oder Gegenstände, zu denen sogar die Heizungsrohre zählen. Solche Dinge hat Byung-Chul Han „stabilisierende Ruhepole des Lebens“ genannt, die er mit der Funktion von Ritualen gleichsetzt.(5)
Josef Dabernig, Lacrimosa, 2024, Standbild
In der Einführung zu seiner Essaysammlung hat Nora die älteste Mnemotechnik von Cicero und Quintilian erwähnt, die darin besteht, jeden Gedanken mit einem Gegenstand des Hauses zu verknüpfen. Ähnliche „loci memoriae“ finden sich sowohl im Film wie auch im Text, allerdings differieren beide Narrative in der Verwendung der Zeit: Pellandini ist in der Vergangenheit, sein Text ist eben ein Gedächtnisort, an dem Erinnerungen noch einmal auferstehen, Dabernigs filmisches Setting allerdings nährt sich aus dem Gedächtnis. Es ist alles noch am Leben und scheint sich zu weigern, in das „Tribunal der Geschichte“ (Pierre Nora) überzugehen. Auch mit dem Tod der Tante wenige Tage nach Abschluss der Dreharbeiten bleibt der Film in der Vorzukunft.
Josef Dabernig, Lacrimosa, 2024, Standbild
Nach Byung-Chul Han ist ein Ritual wie ein Bauwerk und begehbar wie ein Haus.(6) Dazu begleitet die Begräbniszeremonie der Trauermarsch Auf ewig von Emil Stolc, einem Stück für Blasmusik, das vermutlich oft bei ländlichen Traueranlässen gespielt wird, während der Filmtitel auf das Lacrimosa aus Mozarts Requiem, seinem letztem nicht von ihm vollendeten Werk, verweist. Das prozessuale Fortschreiten der Handlung stellt Dabernig auf die Säulen von Bild, Text und Musik und filtriert aus der Rohmasse des Gedächtnisses ein Haus ähnlich wie Nora von einer „Muschel am Strand“ sprach, „wenn das Meer des lebendigen Gedächtnisses sich zurückzieht“.(7)
(1) Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1998.
(2) Aus der Synopsis von Josef Dabernig, Pressetext Grazer Kunstverein, Josef Dabernig. Lacrimosa, 2024.
(3) Nora, S. 20.
(4) Vgl. das Kapitel „Reich der Zeichen“ in Byung-Chul Han, Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart, Berlin 2019, S. 75 ff., Zitat S. 79.
(5) Byung-Chul Han, S. 11.
(6) Vgl. Byung-Chul Han, S. 11 ff.
(7) Nora, S. 20.